Die Hölle regiert jetzt wieder.
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Mariupol im Süden, Charkiw im Osten, Tschernihiw im Norden und Lwiw.

Mariupol war freitags, Charkiw war sonntags, Tschernihiw war donnerstags und dazwischen war Lwiw. Jeden Tag wurde die Welt mehr zur Hölle, bis sie in Butscha und Irpin und an vielen anderen Orten auf der Welt unterging und nicht mehr auferstand für diejenigen, die dort ihre Heimat hatten und nun mit den Bildern der dort hingerichteten Menschen weiterleben müssen, mit den Säcken voller Leichen, mit dem unerträglichen Schmerz in ihrem zerstörten und verkohlten Land.

Als mein Mann und ich vor 10 Jahren zum ersten Mal in die Ukraine reisten, zeigte sich uns dort ein Land mit wunderbaren Menschen voller Ideen und Träume. Ein Land mit Menschen, die Hoffnungen hatten. Ein Land, wo ein Paul Celan, eine Rose Ausländer oder ein Joseph Roth herkommen. Letzterer schrieb vor nicht ganz 100 Jahren in einem Brief an Stefan Zweig: "Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert."

Es kann nur Verlierer geben

Die Hölle regiert jetzt wieder, den Menschen wurde ihr lebenserhaltendes Gefühl von Frieden und Sicherheit weggerissen, aus der Brust gerissen. Ich könnte schreien, in Wirklichkeit weine ich in mich hinein. Niemandem ist damit geholfen, denn in diesem Krieg kann es nur Verlierer geben.

Vor ungefähr vier Wochen lief eine Mutter aus Kiew unter hartem Beschuss mit ihren beiden minderjährigen Kindern durch die Tage und kam am anderen Ende der Nacht wieder heraus. Der Krieg und seine Verbrecher verfolgten sie und blieben als ungebetene Gäste in ihren Köpfen. In Kiew musste sich die Mutter, die Ira heißt, entscheiden zwischen den Eltern im Rollstuhl und den beiden minderjährigen Kindern. Sie entschied sich für die Kinder und musste die Eltern in ihrem Elend zurücklassen. Die schwierigste Entscheidung in ihrem Leben, die ihr als Strick um den Hals die Luft zum Atmen nimmt.

Sie nahm ihre Kinder und lief gegen die Zeit vor der Terrorgewalt in ihrem Land davon. Nach vier Tagen kamen sie mit einem Koffer und ein bisschen Geld in Österreich an. Es war ihre Mondlandung. Vom Krieg verschluckt und irgendwo ausgespuckt. Dazwischen haben sie die Hölle gesehen und sind durch diese gegangen.

Mama, warum gibt es Krieg?

Mama, warum gibt es Krieg, fragt mich mein kleiner Sohn jeden Tag, seit Ira und ihre beiden Kinder bei uns wohnen, und warum sind die Menschen so böse?

Wer erklärt es ihm, wer erklärt es uns, wer erklärt es all den Menschen, dass der Mensch, als Pfauenschrei geboren, zum Ungeheuer werden kann, wenn man ihn zum Ungeheuer werden lässt?

Im Hinterkopf erklingt Spiegel im Spiegel von Arvo Pärt und hört nicht mehr auf.

Ein anderer ukrainischer Freund, ein Übersetzer, will Kiew nicht verlassen. Das ist sein Widerstand gegen den kalten Mann im Kreml. Er wird mit all seinen Erinnerungen, Gedanken und Wunden in seiner Stadt bleiben und dort weiterhin seine DichterInnen übersetzen, zuletzt Ilse Aichinger. Er wird in Kiew bleiben und eine Hoffnung haben, eine größere Hoffnung, so eine, wie Aichinger sie meint, als sie schrieb: "Erinnerung begreift sich nicht zu Ende".

(Andrea Drumbl, 9.4.2022)