Die Ohrfeige, die Will Smith Moderator Chris Rock verpasst hat, erhitzt die Gemüter. Fest steht: Das ist keine adäquate Reaktion auf eine Provokation. Ein Moment der Reflexion wäre gut gewesen.

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Die Ohrfeige, die Oscar-Gewinner Will Smith dem Moderator Chris Rock verpasst hat, erregt die Gemüter immer noch. Der Comedian hatte einen wirklich sehr unangebrachten Scherz über die Frisur von Smiths Frau Jada Pinkett Smith gemacht. Diese leidet an der Autoimmunkrankheit Alopecia, auch bekannt als kreisrunder Haarausfall.

Ob die Reaktion auch nur annähernd angebracht war und ob Frauen von ihren Männern noch immer – auch handgreiflich – verteidigt werden sollen oder müssen, ist seither eine Frage, die heftig diskutiert wird. Ein Grund, warum das Thema so erregt, ist aber sicher auch die Tatsache, dass fast alle Menschen immer wieder Übergriffe erleben.

Eine spontane Ohrfeige coram publico ist es wohl in den seltensten Fällen. Aber verbale Übergriffe erleben wir eigentlich ständig, selbst oder als Zusehende. Etwa wenn Vorgesetzte ihre Machtposition ausnutzen und einen Menschen niedermachen. Wenn einem in einer Sitzung ins Wort gefallen und das eigene Argument zunichtegemacht wird. Oder wenn man sich, egal ob mit oder ohne Publikum, verletzende, beleidigende und herabwürdigende Bemerkungen anhören muss. Dazu kommen dann noch die körperlichen Übergriffe, die vor allem Frauen kennen. Der Pograpscher ist leider immer noch viel zu weit verbreitet.

Kampf, Flucht oder Lähmung

Die Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf solche Übergriffe. Einige verteidigen sich tatkräftig – wie Will Smith es getan hat. Andere ziehen sich zurück und versuchen den Vorfall wegzuschieben. Wieder andere bleiben im Moment sprachlos, verfallen in eine Art Schockstarre. Und später fällt ihnen ein, was sie hätten tun sollen.

"Wird man angegriffen, schrillt im Gehirn eine Art Alarmsystem, das im Reptiliengehirn sitzt, einem Hirnteil, der sich seit den Reptilien nicht mehr weiterentwickelt hat. Der Kampf- oder Flucht-Reflex wird aktiviert, man reagiert dann im Affekt, hat keinen Zugriff auf das rationale Denkvermögen. Man kann in dem Moment nicht bewusst entscheiden, und die Reaktionen können überschießen", erklärt Kerstin Schuller, Klinische Psychologin bei Instahelp, der Plattform für psychologische Beratung online.

Merkt man, dass man von seinen Emotionen überrollt zu werden droht, hilft es, sich kurz aus dem Geschehen herauszunehmen: "Man sollte versuchen, kurz innezuhalten, ein paarmal tief durchatmen, vielleicht einen Schritt zurückgehen. Dieser kurze Moment reicht aus, damit der Zugang zum rationalen Verstand wieder offen ist und man bewusst entscheiden kann", weiß Schuller.

Tief durchatmen

Vor allem das Atmen hilft, sich aus der Überrumpelung zu befreien und den Kontakt zur Situation wiederherzustellen, mit jeder Sekunde, die vergeht, kann man wieder bewusster entscheiden: "Dann kann man immer noch heftig reagieren, etwa sein Gegenüber anschreien, aber man hat sich dann bewusst dafür entschieden. Es ist in jedem Fall besser, besonnen und bewusst zu reagieren und nicht womöglich Gleiches mit Gleichem zu vergelten." Und Schuller betont auch, dass Gewalt, mit der einzigen Ausnahme, wenn man körperlich attackiert wird, nie eine Lösung ist: "Wird man körperlich angegriffen, nachts im Park etwa, dann darf und soll man sich auch zur Wehr setzen."

Wie soll man dann aber reagieren? Indem man, nach kurzer Besinnung, die eigenen Emotionen, die der Übergriff hervorgerufen hat, in aller Deutlichkeit kommuniziert. Etwa indem man sagt "Ich will das nicht, weil mich das verletzt" oder "Ich lasse mich so nicht behandeln". Und Schuller betont: "Diese Reaktion darf ruhig mit Nachdruck sein, sowohl in der Wortwahl als auch in der Lautstärke. Aber es ist wichtig, dass man dabei in Ich-Botschaften spricht und möglichst gezielt auf die Situation reagiert."

So eine klare Reaktion fällt nicht allen Menschen leicht. Dahinter steckt, dass viele grundsätzlich ein Bedürfnis nach Harmonie haben und gemocht werden wollen. Deshalb tun sich nicht wenige schwer damit, Grenzen zu ziehen, vor allem auch Frauen. Aber Schuller bekräftigt: "Ich darf und muss sogar Nein sagen. Man muss nicht von allen gemocht werden, es ist völlig in Ordnung, wenn man mit jemandem nicht in Harmonie ist."

Übergriffe entdecken

Was in der Theorie logisch und auch einfach umsetzbar klingt, ist in der Praxis oft sehr schwierig. Denn ist man gekränkt, verletzt oder auch provoziert worden, trifft einen das oft sehr tief. Um angemessen reagieren zu können, muss man sich gut mit sich selbst auseinandersetzen. "Viele Menschen kennen ihre eigenen Grenzen nicht wirklich. Die muss man erst einmal herausfinden. Denn nur, wenn ich meine Grenzen kenne, kann ich sie auch adäquat verteidigen", weiß Psychologin Schuller.

Diese Auseinandersetzung kann gelingen, indem man sich vergangene Erlebnisse, in denen man einen Übergriff erlebt oder sich überrumpelt gefühlt hat, in Erinnerung ruft. Was ist da genau passiert? Wie hat man sich dabei gefühlt? Was hat das ausgelöst? Wie hat man reagiert? Und wie hätte man gern reagiert? Das kann man aufschreiben, jemandem erzählen oder auch im Gespräch mit einer Vertrauensperson oder psychologischer Unterstützung erarbeiten.

Was ein Übergriff ist, dafür gibt es allgemeingültige Regeln, aber auch individuelle. Die Abgrenzung ist dabei nicht immer ganz leicht, aber Schuller betont: "Alles, was wehtut, demütigend oder beleidigend ist, egal ob psychisch oder physisch, ist ein Übergriff, Punkt." Bleiben immer noch individuelle Befindlichkeiten – aber dann ist es umso wichtiger, diese zu kommunizieren und klarzustellen, dass man das nicht möchte. Ganz wichtig, wenn man die eigenen Grenzen festlegt, ist: sich nicht mit anderen vergleichen. "Solche Situationen sind immer individuell, es gibt kein normal. Für manche Menschen ist etwas gar kein Problem, was für andere aber schon ganz klar ein Übergriff ist."

Dann gibt es aber immer noch Menschen, die die eigene Befindlichkeit ignorieren oder sogar lächerlich zu machen versuchen. Da gibt Schuller zu bedenken: "Menschen, die so handeln, wollen oft provozieren. Ist man dann emotional getroffen, ist das genau das Futter, das sie suchen. Da ist es umso wichtiger, durchzuatmen, anstatt sich aus der Fassung bringen zu lassen. Zeigt man dann seine Gerührtheit oder Betroffenheit, ist das wesentlich effektiver, als sich auf das Provokationsspiel einzulassen."

Adäquate Reaktion finden

Bleibt immer noch das Thema der Täter-Opfer-Umkehr. Etwa wenn der Person, die einen Übergriff kommuniziert, zu verstehen gegeben wird, sie solle kein Spaßverderber sein. Schuller betont: "Es gibt Situationen, die muss man nicht aushalten, egal wie das Umfeld das sieht." Das ist am Arbeitsplatz genauso wie im Privaten. So gibt es etwa in vielen Familien den einen Onkel, der Mädchen und Frauen immer etwas zu lange umarmt. "Da ist dann die ganze Familie in der Verantwortung, dass das nicht mehr passiert."

Ist man sich nicht sicher, wie eine gute Reaktion aussehen kann, hilft immer auch die Frage: Was will ich einem Kind mit meinem Verhalten zeigen? Möchte ich ihm zum Beispiel wirklich vermitteln, dass es über den Pograpscher lachen soll, um nicht als Spaßverderber dazustehen? Oder möchte ich es vielmehr darin bestärken, die eigenen Grenzen selbstbewusst zu verteidigen? Damit lässt sich die Frage oft sehr schnell beantworten. (Pia Kruckenhauser, 9.4.2022)