Kurz bevor die Dunkelheit sich über die Kinosessel und die Zuschauer im Saal legt und der Film startet, beginnt Beate Haller-Fischerlehner in der Küche nebenan zu rotieren. "Eine Pizza Diavolo, ein Toast, zwei Popcorn klein", dirigiert sie ihren Ehemann Siegfried und ihre Kellnerin mit knappen Worten. Energisch schneidet die Kinobesitzerin eine Pizza in Stücke, zack, raus damit. Kellnerin Alexandra Strasser läuft dann in den Saal, direkt zwischen die Kinoreihen, mit Pizza und Schinken-Käse-Toast, mit Spritzern und Cola. Auf der Leinwand leidet gerade Nora Tschirner im romantischen Film Wunderschön. Unten zückt die Kellnerin eine Taschenlampe und beleuchtet die Pizza. So macht Strasser es immer, es ist ein Ritual im Kino in Ottensheim.

Haller-Fischerlehner, kurze blonde Haare, eleganter Seidenschal, führt im Mühlviertel das wohl letzte Lichtspielhaus in Österreich, das zugleich ein Restaurant ist – die "Filmszene Ottensheim", Beiname "Kino bei Tisch". Der Kinosaal hat fast etwas Theaterhaftes, mit einem Balkon hinten. Auf die Besucher warten rund 30 Tische und 150 Ledersessel, so penibel symmetrisch, als hätte US-Regisseur Wes Anderson sie persönlich reingestellt. Haller-Fischerlehner hat das Kino in den Neunzigerjahren von ihren Eltern übernommen, seit 1985 arbeitet sie hier und lebt dafür. Ihr Handyklingelton ist die Fanfare von 20th Century Fox, auf ihrem Autokennzeichen steht "Kino 1". Sie wohnt mit ihrem Mann auch über dem Kino.

Beate Haller-Fischerlehner und Ehemann Siegfried leiten das einzige Kino in Österreich mit Tischen und Bewirtung während Vorführung
Foto: Violetta Wakolbinger

Rund 140 Kinos gibt es heute in Österreich, im Jahr 1958 waren es noch mehr als 600. Auch die Struktur der Kinos, die überleben, hat sich verändert. Statt vieler kleiner dominieren nun wenige große: Von rund 90.000 Sitzplätzen im Jahr 2020 entfielen knapp 60.000 auf Kinos, die über sechs Säle oder mehr verfügen. Die jährlichen Kinobesuche waren schon vor der Corona-Pandemie langsam gesunken, im Jahr 2019 waren es noch 14,5 Millionen. Mit der Pandemie gaben sich nun aber auch brave Kinogänger dem Sog der amerikanischen Streamingdienste hin. Werden sie alle zurückkehren?

Haller-Fischerlehner macht sich wenig Sorgen. "Das Konzept der Gastronomie rettet uns", sagt die 64-Jährige. Die "Filmszene Ottensheim" versteht sich als Programmkino, wobei der Begriff im Mühlviertel nicht ganz so eng interpretiert wird. Krimikomödien wie Kaiserschmarrndrama nach dem Buch von Rita Falk zeigt Haller-Fischerlehner schon auch, "aber ich spiele keinen Jackass". Die Entscheidung, vorwiegend Arthouse-Filme zu zeigen, ergab sich durch neue Konkurrenten. 1995 eröffnete das Hollywood Megaplex in Pasching, 1999 bekam Linz ein Cineplexx. Schon früh spürte Haller-Fischerlehner, dass sie den Besuch in ihrem Kino zu einem Ereignis machen musste. Mittlerweile schaut sie sich nach einem Pächter um, der das Kino nach ihr weiterführt.

Sangria zu Prinzessin Diana

Die meisten der 15 Zuschauer an diesem eher ruhigen Abend sagen, dass sie nicht speziell wegen des Films Wunderschön da seien, sondern weil sie einen netten Abend mit Freunden verbringen wollten. Schon vor dem Film wird boniert und kassiert, "weil am Schluss wird es halt spannend", sagt Haller-Fischerlehner. Kellnerin Strasser bringt immer wieder frische Pizzen und Sandwiches in den Saal. "Die ersten 15 Minuten des Films kann man reinservieren, das macht dem Gast gar nix", sagt sie. Einmal pro Vorstellung geht sie später noch durch. Strasser sagt, sie beherrsche die Kunst, diskret Blickkontakt mit dem Zuschauer herstellen zu können, ohne diesen vom Film abzulenken.

Kino bei Tisch: In Ottensheim serviert Kellnerin Alexandra Strasser Pizza und Toast zu den Vorführungen.
Foto: Violetta Wakolbinger

Die Speisekarte bietet neben Pizzen, Toasts und Popcorn auch Haller-Fischerlehners in der Region berühmte Knoblauchstangerln. Zu trinken gibt es neben Spritzer und Bier auch hausgemachte Sangria. In ihrer Küche gerät die Besitzerin ins Philosophieren: "Bei so einer Komödie wie Rotzbub wird viel konsumiert, bei einem James Bond nicht, da sind die Leute zu fokussiert." Bei Spencer wiederum, dem Drama über Prinzessin Diana, habe das vorwiegend weibliche Publikum überdurchschnittlich viel Sangria bestellt. "Alles hängt vom Film ab", sagt Haller-Fischerlehner.

Filmbälle

In den Achtziger- und Neunzigerjahren veranstaltete sie sogar Filmbälle. Ein internationaler Star kam zwar nie, aber zumindest österreichische Größen wie Franz Antel und Karl Merkatz. Statt eines Hauchs von Knoblauch wehte ein Hauch von Hollywood durchs Kino Ottensheim. Bereits da standen die Kinos als Spielorte von Filmen unter Druck. Ab den Fünfzigerjahren hatte die Erfindung des Fernsehens dem Kino zu schaffen gemacht. Aber verglichen mit Streamingplattformen war das Medium Fernsehen für einen Kinobetreiber noch ein einfacher Gegner. Selbst als die Videokassette in den Achtzigerjahren die Wohnzimmer eroberte, hatten Kinos ein paar gute Argumente: Sie boten die Filme nicht nur auf der großen Leinwand, sondern auch deutlich früher. Heute laufen Kinofilme wie "The Power of the Dog" und Disneys "Encanto" gleichzeitig oder unwesentlich später bei den Streamingdiensten.

Oliver Treiber schaltet in seinem Projektionskammerl den digitalen Projektor und die Toshiba-Klimaanlage ein, dann stapft er wieder die Stufen runter. "Den Rest kann ich drüben von der Kassa steuern", sagt er. Der Besitzer des Kinos Oberpullendorf im Burgenland weiß, die Digitalisierung ist zugleich Segen und Fluch. Einerseits kann der 53-Jährige das kleine Kino praktisch allein schupfen. Er braucht nicht einmal mehr einen Filmvorführer. Andererseits kämpft er nun nicht nur gegen das Cineplexx Mattersburg, sondern gegen die Streamingdienste von Weltkonzernen wie Netflix und Disney. Treiber, ein schmächtiger Mann in einem karierten Hemd, lässt sich in den Sessel hinter seiner Kassa fallen und sagt: "Das Streaming ist ein Hund."

"Das Streaming ist ein Hund": Sieben Reihen hat das Kino Oberpullendorf, das Oliver und Jutta Treiber schupfen.
Foto: Christian Fischer

Galant zur Deneuve

Schon der Eingangsbereich von Treibers Kino weckt nostalgische Erinnerungen an eine Siebziger- oder Achtzigerjahre-Jugend. Auf der holzvertäfelten Theke steht eine Popcornmaschine, dahinter leuchten Rumkugeln, Gummibärchen und Sportgummi. An seinem Festnetztelefon führt Treiber noch altmodische Kinogespräche: "Sieben Reihen haben wir. – Nein, man sieht überall sehr gut. – Freitag um halb acht, zwei Karten, sehr gern."

1996 hat Treiber das Kino von seinen Eltern übernommen. "Sogar Musicals wie Hair und Komödien mit Bud Spencer waren einmal ein Bombeng’schäft", sagt er und klingt dabei fast gleichmütig. So sei es eben, die Zeiten ändern sich, leider nicht zugunsten der Kinos. Heute spielt Treiber Filme, wenn’s sein muss, auch für einen einzigen Besucher. So ist es auch an diesem Nachmittag. Eine Pensionistin kauft ein Ticket für In Liebe lassen mit Catherine Deneuve, Treiber begleitet sie persönlich hinüber in den Kinosaal. "Wo hat man das schon? Das hat schon Stil", schwärmt die Frau.

Seit Treiber sein Kino vor sieben Jahren digitalisiert hat, bespielt er nur noch zwei von drei Sälen. Im größten, den er nicht digital umgerüstet hat, finden gelegentlich Lesungen und Konzerte statt. Im Vorführraum steht noch ein Spulenturm – das Gerüst, durch das die Filmrollen ratterten. Bis zu 20 Kilogramm hatte eine Kiste mit einem analogen Film, den Treiber vom Verleih bekam. "Titanic waren sogar zwei Kisten", sagt er. Damals spielten Landkinos ihre Filme noch notorisch spät, denn die Zahl der Kopien war beschränkt. Wenn ein kleines Kino schließlich einen Blockbuster bekam, war das Filmmaterial häufig arg gezeichnet – mit Kratzern und Flecken aus den größeren Lichtspielhäusern, die es wochenlang abgespielt hatten. Heute werden Kinofilme auf Festplatten verschickt oder heruntergeladen, weshalb auch kleine Häuser schnell die besten Filme spielen können, sofern sie bereit sind, die in den ersten Wochen höheren Gebühren an die Filmverleiher zu zahlen.

Das Burgenland hat nur noch eine Handvoll Kinos. Treiber erlebte, wie ringsum jene in Stoob, Mannersdorf, Pinkafeld und anderswo schlossen. Ehemalige Kinos bekommen dann neue Mieter, am Land wie in der Stadt. Die ehemalige Cineworld in Wels wurde ein Fachmarkt für Reitsportartikel. Im Nonstop-Kino am Grazer Hauptbahnhof, wo einst Sexfilme liefen, hat sich 2014 die ÖBB einquartiert. Die früheren Wiener Kinos "Auge Gottes" und "Kolosseum" sind beide heute Hofer-Märkte.

Im Waldviertel trotzt Julia Gaugusch-Prinz dem Kinosterben. Sie weiß, dass es früher einfacher war; wie Haller-Fischerlehner und Treiber stammt sie aus einer Kinofamilie. Sie führt zwei Kinos, das Stammhaus in Gmünd und ein neueres Kino in Zwettl, mit jeweils drei Sälen. Gespielt werden Action-, Animationsfilme und alles, was vielen gefallen könnte. "Wir sind ein klassisches Mainstreamkino, der Unterhaltungsnahversorger hier oben", sagt Gaugusch-Prinz. Es ist ein Freitagnachmittag in Zwettl, aber schon reger Betrieb. In der Popcornmaschine knallen die Maiskörner, und im Kino laufen Kinder herum. Manchmal veranstalten Eltern hier Kindergeburtstage. "Dann werden die Geschenke in einem der Kinosäle versteckt", sagt die Besitzerin.

Im Waldviertel trotzt Julia Gaugusch-Prinz mit zwei Kinos – eines in Gmünd, das andere in Zwettl – dem Kinosterben. "Wir sind Unterhaltungsnahversorger."
Foto: Lukas Kapeller

Finanz killed the moviestar

Ob diese Kinder später noch hier ins Kino gehen werden? Gaugusch-Prinz verkauft als Kinobesitzerin zwar Illusionen, macht sich selbst aber keine. "Bis zu meiner Pension möchte ich noch Kino machen", sagt die 55-Jährige. "Ich glaube aber, dass Kinos wie meine im Aussterben begriffen sind." In Zukunft werde der Zuschauer sich abends wohl entscheiden zwischen Streaming und sogenannten Eventkinos, die mit gigantischen Leinwänden und Soundsystemen aufwarten und in Entertainmentkomplexe mit McDonald’s, Shopping, Bowlingbahn und Ähnlichem eingebettet sind. Gaugusch-Prinz, die auch Vizepräsidentin des österreichischen Kinoverbands ist, sagt über heutige Filmunternehmen: "Das sind nicht mehr Filmstudios, sondern Finanzkonzerne. Wenn ein Finanzmensch dort denkt, er kann mit einem Film mehr Gewinn mit Streaming als im Kino machen, dann landet der Film auf der Plattform."

Auch Oliver Treiber in Oberpullendorf sieht die Entwicklung skeptisch. "Bis zur Pandemie war ich sehr zufrieden, jetzt ist es eine Katastrophe", sagt er. Er hoffe, dass zumindest die früheren Besucher langsam zurückkämen. Schließlich bietet Treiber für Stammkunden einen besonderen Service, er ist sozusagen ein menschlicher Algorithmus. "Manche Besucher sagen zu mir: ‚Du kennst mich. Welcher von den zwei Filmen gefällt mir besser?‘ Und dann sage ich ihm, welcher passt und bei welchem er sich eh nur fadisiert." (Lukas Kapeller, 9.4.2022)