Mit diesem Collider-Detektor im Fermi National Accelerator Laboratory gelang es, die Masse des W-Bosons neu zu bestimmen.

REIDAR HAHN/FERMILAB

Das W-Boson ist eines der schwersten bekannten Teilchen im Universum, es besitzt etwa die 80-fache Masse eines Protons. Das Botenteilchen ist Vermittler der schwachen Wechselwirkung, eine der vier fundamentalen Grundkräfte der Physik, und somit ein Schlüsselbaustein des Standardmodells. Seine Existenz und detaillierte Eigenschaften wurden erstmals in den 1960er Jahren vorhergesagt, 1983 wurde es am Cern bei Genf entdeckt.

Am Fermilab bei Chicago hat ein Physikerteam die Masse dieses so wichtigen Elementarteilchens mit bisher unerreichter Präzision neu vermessen. Das W-Boson ist demnach deutlich schwerer als vom Standardmodell der Teilchenphysik vorhergesagt. Die am Donnerstag im Fachmagazin "Science" veröffentlichte Studie weckt somit Zweifel am Standardmodell, der bisher zweifellos erfolgreichsten wissenschaftlichen Theorie zur Beschreibung des Universums. "Science" hält die Studie für so wichtig, dass sie auch zur Titelgeschichte wurde:

Foto: Science, AAAS

Große Abweichungen

Dem internationalen Konsortium "Collider Detector at Fermilab" (CDF) gelang es, die Masse des W-Bosons etwa doppelt so genau zu bestimmen als bei der bisher besten Messung bisher. Das aus 400 Forschenden bestehende Team analysierte Daten, die während zehn Jahren mit dem Teilchenbeschleuniger Tevatron am Fermilab aufgezeichnet und wiederum während zehn Jahren analysiert wurden. Demnach stimme die Präzisionsmessung der Masse des W-Bosons um sieben Standardabweichungen (Sigma) nicht mit dem Standardmodell überein. (Als statistischer Schwellenwert gilt 5-Sigma; sieben Standardabweichungen liegen deutlich darüber und schließt Zufälle noch deutlicher aus.)

Eine Grafik in einem Begleittext in "Science News" verdeutlicht diese Abweichungen sehr eingängig:

Die neu veröffentlichten Messungen (oberste Zeile) stehen im Widerspruch zum Standardmodell der Teilchenphysik.
Grafik: "Science" News 2022

"Eine solche Abweichung liegt jenseits der Entdeckungsmöglichkeiten in der Welt der Teilchenphysik", sagte Ben Kilminster im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Er ist Professor für experimentelle Teilchenphysik an der Universität Zürich und Mitglied des CDF-Konsortiums.

Unentdeckte Teilchen oder Kräfte

In der Teilchenphysik besteht die Konvention, bei Effekten ab drei Standardabweichungen von einem "Hinweis" zu sprechen, ab fünf Standardabweichungen von einer "Entdeckung". So deuten die Ergebnisse laut Kilminster stark auf die Möglichkeit hin, dass es bisher noch unentdeckte Teilchen oder Kräfte gebe.

Mit "An upset to the standard model" (also "eine Erschütterung des Standardmodells") betiteln denn auch Claudio Campagnari von der US-Universität Kalifornien, Santa Barbara und Martijn Mulders vom Cern einen Begleitartikel zur Studie. Die Forscher betonen allerdings, dass "außergewöhnliche Behauptungen außergewöhnliche Beweise erfordern". Deshalb brauche es zusätzliche Experimente, um die vorliegenden Ergebnisse unabhängig zu bestätigen – oder zu verwerfen.

Sie weisen darauf hin, dass Wissenschafterinnen und Wissenschafter am Large Hadron Collider (LHC) am Cern bereits größere Datenmengen gesammelt hätten zu W-Bosonen. Damit könne im Prinzip noch eine bessere Präzision erreicht werden.

Warten auf Bestätigung

Auch Ben Kilminster möchte nicht mit letzter Überzeugung von einer Entdeckung sprechen. "Vergleichbare Messresultate von anderen Experimenten würde das Vertrauen in unsere Messungen stärken", sagte er. Zudem seien nun die theoretischen Physikerinnen und Physiker gefragt, um die Berechnungen beruhend auf dem Standardmodell eingehend zu prüfen. "Das ultimative Vertrauen wird uns aber erst die Entdeckung neuer Teilchen oder Kräfte schenken, die aufgrund ihrer Wechselwirkungen die bisher herrschende Diskrepanz zwischen Messung und Berechnung erklären könnten", so der Forscher.

Gewisse Rätsel der Physik lassen sich mit dem Standardmodell bisher nicht knacken. Beispielsweise gibt es keine Antwort darauf, worauf das offenkundige Ungleichgewicht zwischen Materie und Anti-Materie im Universum beruht. Auch hat sie keine Erklärung für die dunkle Materie. Womöglich öffnet die Neuvermessung des W-Bosons ja das Fenster zu einer "neuen Physik", die diese Rätsel lösen kann. (APA, tasch, 8.4.2022)