Eine Pionierin der Frauenbewegung: Sabine Derflinger porträtiert in "Alice Schwarzer" die deutsche Feministin.

Foto: Cristina Perincioli

Müsste man ein Motto dieser Diagonale wählen, dann könnte es lauten: "Zurück zur Selbstverständlichkeit". Erstmals seit 2019 findet die Diagonale wieder an ihrem angestammten Platz im Frühjahr statt. Und auch wenn es keine Normalität als solche gibt, so zumindest eine gespaltene Gegenwart in Zeiten der Pandemie.

Die Gesichtsmasken werden in den gutbesuchten Kinos weiterhin getragen, während sich an der Festivalbar im Grazer Volksgarten Besucherinnen und Besucher so eng aneinanderdrängen, als hätte es nie Abstandsregeln gegeben.

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Festivals sind auch Stimmungsbarometer, zumal jene, die gebündelt den filmischen Output eines Landes präsentieren. Die Branche scheint die Disruptionen der letzten zwei Jahre einigermaßen unbeschadet überstanden zu haben. Man blickt auf die To-do-Listen für die Zukunft. Auch die Kinos, die starke Einbußen erleiden mussten, rüsten sich für Rückholaktionen. Beim Branchenforum wurde ein vom Stadtkino Wien entworfener Plan für eine neue Abokarte präsentiert, die für eine ganze Reihe unabhängiger Kinos des Landes gelten soll und Einlass per Flatrate gewähren wird.

Das Modell klingt nach Streamer-Logik, ist aber etwa in den Niederlanden bereits seit 13 Jahren erfolgreich im Einsatz und konnte dort zu einem signifikanten Zuschauerzuwachs beitragen. Nicht zuletzt im Bereich kleiner, künstlerisch eigenwilliger Filme: Denn einmal Abonnent, wird das Publikum immer experimentierfreudiger und checkt auch weniger bekannte Titel aus.

Von Wien zur Ukraine

Profitieren könnten davon auch Arbeiten, die Nischen besetzen, die im Mainstream kaum abgebildet sind. Dariusz Kowalskis Zwischennutzung wäre dafür ein so schöner wie exemplarischer Kandidat: Hintersinnig, manchmal auch schwermütig beschreibt der Dokumentarfilm ein mannigfaltiges urbanes Miteinander, wie man es eher mit US-Großstädten verbinden würde. Schauplatz ist eine aufgelassene Wurstfabrik nahe der Südosttangente, in der ein wild gewachsenes Geflecht aus Mechanikern, Lebensmittelgroßhändlern, einer Growl-Metal-Band und bildender Künstler entstanden ist. Ob das Dauerprovisorium noch lange bleibt, ist fraglich.

Mitten hinein in der Verwerfungen der Gegenwart führt hingegen Juri Rechinskys Signs of War, ein Dokumentarfilm, der zum Großteil aus Fotografien des Franzosen Pierre Crom besteht. Seit 2014 hält er das Geschehen an Brennpunkten der Ukraine fest. Rechinsky, ein in Wien ansässiger Ukrainer, lässt sich vollkommen auf die Perspektive dieses Insiders von außen ein: Vor nüchternem Dekor berichtet Crom über die Verhärtungen des Konflikts, die ihm, dem professionellen Beobachter, immer mehr an die Nieren gingen – er war etwa einer der Ersten, der im Juli 2014 an der Unglücksstelle nach Abschuss des Malaysia-Airlines-Flugzeugs Bilder machte.

Szene aus Juri Rechinskys "Signs of War"
Foto: Diagonale

Signs of War macht durch Croms Bilder deutlich, wie sich ein Gestus der Gewalt an den Rändern der Gesellschaft fortpflanzt, ja vervielfältigt. Die Bedrohung wird schon bei der Annexion der Krim in der Härte der prorussischen Aktivisten manifest. In der Ostukraine dokumentiert Crom dann nicht nur zerstörte Straßen, Mobs und Berge getöteter ukrainischer Soldaten, sondern auch ein Partisanentum beider Seiten, das mit den Jahren immer extremistischere Züge trägt. Eine besonders surreale Szene erinnert Crom an Mad Max – die Kriegsfolklore mit Motorrädern, Flammen und Feuerwerk erscheint fürwahr wie ein bizarres Fanal für den Krieg, der noch kommt.

Nach wie vor beliebte dokumentarische Zugänge sind Porträts, besonders wenn es um weibliche Perspektiven geht. Sekundenarbeiten von Christiana Perschon ist mehr eine feinfühlig komprimierte Begegnung – und zwar zweier Künstlerinnen und zweier taktiler Medien. Während Lieselott Beschorner im Akkord ihre Kohlezeichnungen anfertigt, tastet sich der Film an sie heran. Dialoge bleiben im Dunkeln.

Mehr Mut zur Kontroverse

Vergleichsweise maximalistisch wirkt Sabine Derflingers Dokumentarfilm Alice Schwarzer, der die deutsche Frauenrechtlerin und Emma-Chefin durch eine solche Fülle an Material und Themen beleuchtet, dass sie dabei schon wieder ein wenig unscharf wird. Trotzdem gibt es bei der wortgewandten Feministin, die mit gerne auch kategorischen Debattenbeiträgen bis heute zu polarisieren versteht, viel Lehrreiches wie Unterhaltsames zu sehen.

Besonders interessant sind jene Passagen, in denen man von ihrer Sozialisierung in Paris erfährt, von Simone de Beauvoir bis zu den Ursprüngen der aktivistischen Frauenbewegung. Das war eine Form von Identitätspolitik, die schon Jean-Paul Sartre nicht behagte. Besonders witzig sind jene Momente, in denen sie bei Talkshows Salonpaschas wie den Schauspieler Klaus Löwitsch ausbremst. Eine stärkere Fokussierung mit mehr Mut zur Kontroverse hätte diese Annäherung aber pointierter gemacht. (Dominik Kamalzadeh, 9.4.2022)