Europa, das gesamte Europa, West und Ost, ist sein Thema. Der Historiker Timothy Garton Ash hat vor mehr als 30 Jahren die große Wende, eingeläutet vom Fall des Kommunismus, begleitet ("Ein Jahrhundert wird abgewählt"). Er lehrt in Oxford und Stanford, schreibt für den Guardian und andere Qualitätsmedien. Dieser Tage war er zum 40. Jahrestag der Gründung des Instituts für die Wissenschaft vom Menschen in Wien. Im Interview zum Ukraine-Krieg entwirft er eine Strategie für Europa mit einem demokratischen Russland.

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In Wien sprach Timothy Garton Ash jetzt vor dem renommierten Institut für die Wissenschaft vom Menschen über
"1989–2022. Years that change(-d) the Face of Europe".
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STANDARD: Sie haben kürzlich geschrieben, dass dieser Krieg von Russland in der Ukraine das Gesicht Europas so verändern wird, dass man es nicht wiedererkennt. Was genau müssen wir uns da vorstellen?

Garton Ash: Ich glaube, dass es das Ende der Nach-Mauer-Periode ist, nach Beendigung des Kalten Krieges. 9. November 1989 (Fall der Berliner Mauer, Anm.), 24. Februar 2022. Es ist eine Tragödie, ganz klar. Wir haben nach 1945 "nie wieder" gesagt und nach Jugoslawien, nach Srebrenica (1995 Massenmord an muslimischen Bosniern, Anm.) auch "nie wieder", und es ist jetzt wieder in großem Ausmaß in Mariupol und in Butscha geschehen. Alle diese Gemeinplätze, die etwa die deutsche Ostpolitik seit 1991 begleitet haben – "es gibt nur Frieden mit Russland, nicht gegen Russland", "Wirtschaftsabhängigkeit ist gut für den Frieden", "Nord Stream 2 stabilisiert Frieden" und so weiter – sind in Schutt und Asche. Wie soll daher unsere Strategie aussehen? Wie soll eine neue europäische Ostpolitik aussehen? Denn im Moment haben wir überhaupt keine.

STANDARD: Ist dieser Krieg jetzt so wichtig für das Schicksal Europas wie die Wende 1989?

Garton Ash: Ich glaube, schon, aber in anderer Richtung. 1989 wurde die Jalta-Teilung (Europas in freien Westen und kommunistischen Osten 1945 im russischen Jalta, Anm.) beendet. Dieser Krieg stellt die Frage: Bekommen wir eine neue Jalta-Teilung, etwas nach Osten verschoben? Oder haben wir eine Strategie, die noch die Hoffnung mit sich bringt von einem "Europa, ganz und frei".

STANDARD: Jeder, der einmal in Russland, in der Sowjetunion, war, fragt sich: Ist dieses Land verurteilt, ewig eine aggressive Diktatur zu sein?

Garton Ash: Nein. Das ist eine aus der Geschichte verständliche, aber nicht zu rechtfertigende postimperiale Reaktion. Ich habe selbst Putin als stellvertretenden Bürgermeister von St. Petersburg 1994 getroffen. Schon damals sprach der junge Putin von russischen Territorien außerhalb Russlands, von der Krim usw. Aber das ist eine historische Hoffnung: Es dauert lange, bis man sich von einem Imperium löst, das wissen Sie in Österreich auch, aber früher oder später kommt man zu dem Punkt. Deswegen müssen wir früher oder später Russland helfen, an diesem Punkt zu gelangen, wo es sich als normaler Nationalstaat versteht und nicht mehr als Imperium.

STANDARD: Wie kann man Russland dabei helfen?

Garton Ash: Kurzfristig muss man der Ukraine mit allen Mitteln helfen, dass es in die stärkstmögliche Position kommt bei einem eventuellen Frieden. Damit das russische Imperium nicht wiederhergestellt wird. Um so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand zu kommen. Dann Wiederaufbau der Ukraine – ich bin sehr dafür zu sagen, die Ukraine ist Kandidat für die EU. Natürlich dauert das zehn, fünfzehn Jahre. Dann langfristig, erst nach Putin – er kann noch viele Jahre, leider, an der Macht bleiben – eine Strategie für Russland.

STANDARD: Die Strategie, aus der Ukraine ein Beispiel für Demokratie und Wohlstand zu machen, das nach Russland hineinstrahlt: Kann das funktionieren?

Garton Ash: Ich bin felsenfest davon überzeugt, das kann funktionieren. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben gezeigt, dass sie an die Demokratie glauben, an die Ukraine. Sie wollen aufbauen, aber nur in der Perspektive einer EU-Mitgliedschaft. Zusätzlich dazu müssen wir jetzt Ernst machen mit Polen und Ungarn in Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Erosion der Demokratie.

STANDARD: Wenn es zu einem schmutzigen Frieden kommt, soll der Westen akzeptieren, dass die Russen ein Stück vom Südosten der Ukraine abschneiden?

Garton Ash: Das ist eine sehr harte, aber berechtigte Frage. Das liegt an den Ukrainern. De facto ist es durchaus möglich, dass wir einen eingefrorenen Konflikt bekommen. Krim, Landbrücke zum Donbass, dort sitzen die Russen, und ich würde sagen, dann müssen wir alles tun, den Rest der Ukraine aufzubauen.

STANDARD: Würden Sie zustimmen, dass Putin größere Ziele als die Ukraine hat? Manche meinen, er möchte die EU zerschlagen und die Nato, die Amerikaner aus Europa draußen haben.

Garton Ash: Sein erstes Ziel ist es, so viel wie möglich vom russischen Imperium, nicht von der Sowjetunion, wiederherzustellen. Zweitens ist das für ihn nicht nur ein Krieg mit der Ukraine, sondern ein Krieg mit dem Westen in der Ukraine. Allerdings wird er dank der Ukrainer so viel Mühe haben, mit den Folgen der Sanktionen, dass wir uns wenigstens nicht in allernächster Zeit Sorgen machen müssen wegen einer russischen Aggression gegen die Nato, Polen, das Baltikum. Aber, nochmals: Langfristig bin ich immer noch dafür, dass ein demokratisches Russland eine "special relationship" mit der EU haben soll – und wenn es dazu kommt, auch, dass ein demokratisches Russland seinen Platz in der Nato findet.

STANDARD: Wirklich?

Garton Ash: Jawohl! Wenn ich für eine konsequente Logik der Erweiterung des demokratischen Westens plädiere, dann logischerweise auch hin zu einem demokratischen Russland. Was übrigens in unserem ureigenen geopolitischen Interesse liegt ...

STANDARD: China ...

Garton Ash: Ja, denn wir sitzen zwischen einer leider schwächer werdenden USA und einem stärker werdenden China. Und da ist Eurasien, das Herzland, absolut entscheidend für unsere Zukunft. Jetzt kommt der Westen plötzlich zusammen. Und interessanterweise verschwindet der große Unterschied zwischen EU und Nato.

STANDARD: Ein Wort zu neutralen Ländern in diesem Nato-EU-Komplex.

Garton Ash: Interessant. Schweden und Finnland führen ernsthafte Diskussionen über die Nato-Mitgliedschaft – nicht so sehr Österreich. Ich glaube allerdings, dass man im Falle Österreichs tatsächlich eine Sonderrolle spielen kann als neutraler Platz für Dialog.

STANDARD: Wie sehr müssen wir uns vor China fürchten?

Garton Ash: Sehr. Dieses Modell ist für viele Länder attraktiv.

STANDARD: Wir stehen zwischen China und einer schwächer werdenden USA, deren demokratische Stabilität manchmal gefährdet ist.

Garton Ash: Ich hätte nie gedacht, dass ein Sturm auf das Kapitol passieren kann. Ich sehe die Möglichkeit, dass ein trumpoider Kandidat die nächste Wahl gewinnt. Umso wichtiger ist unsere eigene europäische Sicherheitsstrategie, und dazu gehört diese neue europäische Ostpolitik. Wir hatten etwa 18 Jahre lang, nach dem Mauerfall, eine klare und gelungene Strategie – kurz gesagt, die Erweiterung des Westens. Seither haben wir die Orientierung verloren. Wir haben eine strategische Unklarheit. Die Chance dieser Krise ist, dass wir wieder strategische Klarheit bekommen.

STANDARD: Es geht wieder um die liberale Ordnung, die schon fast tot war.

Garton Ash: Sie war sehr infrage gestellt, weil wir den Faden verloren haben. Krise nach Krise. Es ist höchste Zeit, dass wir uns zusammenraffen und sagen: Europa ist wieder da, der Westen ist wieder da, eine liberale Agenda für die Freiheit ist wieder da. (Hans Rauscher, 10.4.2022)