Berger vor Berger: "Das Finale 2021 war ein Hit, weil in der Formel 1 endlich wieder echter Rennsport stattgefunden hat".

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Vor dem GP von Australien ist auch Gerhard Berger vom Formel-1-Fieber gepackt. In einem Rennen werde nun "gefühlt öfter überholt als früher in einer ganzen Saison". Über Saudi-Arabien hätte man früher diskutieren sollen, doch der Sport könne auch nicht "der Welt etwas vorhüpfen".

STANDARD: Die Formel 1 erregt Aufsehen wie seit Jahren nicht. Worauf führen Sie das zurück?

Berger: Das Finale 2021 war ein Hit, weil in der Formel 1 endlich wieder echter Rennsport stattgefunden hat. Das ist zwei außergewöhnlichen Rennfahrern und zwei außergewöhnlichen Rennställen zu verdanken. Wie Red Bull und Mercedes jede Hundertstel herausgequetscht haben, war bemerkenswert. Und jetzt, Anfang 2022, hat das neue Reglement voll eingeschlagen.

STANDARD: Und vor allem Ferrari hat voll eingeschlagen.

Berger: Die Karten sind neu gemischt. Red Bull hat seine Hausaufgaben gut gemacht. Ferrari spielt wieder ganz vorne mit – das hat in der Form auch mich überrascht.

STANDARD: Wie wichtig ist es für die Formel 1, dass Ferrari mitmischt?

Berger: Ferrari ist nach wie vor das Herz der Formel 1. Sie müssen bestenfalls immer mitmischen, um die Fans bei der Stange zu halten. Ferrari hat enorm viele Fans, die viel zu lange enttäuscht wurden. Vor Leclercs Sieg in Bahrain war Ferrari 45 Rennen lang ohne Erfolg, das war schon eine sehr lange Durststrecke.

STANDARD: Ferrari hat sich anscheinend früh, noch mitten in der vergangenen Saison, mit den Reformen für 2022 auseinandergesetzt, sich besser als andere darauf vorbereitet.

Berger: Das muss nicht immer ein gutes Zeichen sein, weil es auch heißt, dass man die Saison, die gerade läuft, eigentlich schon abgehakt hat. Aber in dem Fall ist die Strategie aufgegangen. Wobei Ferrari auch schon letztes Jahr mit einem sehr schnellen Motor angedeutet hat, was möglich sein könnte.

STANDARD: Was kann möglich sein? Wie wird sich die Saison entwickeln?

Berger: Ich denke, dass Red Bull das schnellste Auto hat. Aber wir haben in den ersten beiden Rennen noch nicht die Gesamtpotenziale gesehen, weil alle Autos noch etwas übergewichtig sind, um zehn bis 15 Kilogramm. Es wird sich zeigen, wer schneller ans Gewichtslimit herankommt. Red Bull hat den Vorteil, mit Designchef Adrian Newey über einen Mann zu verfügen, der eine gewaltige Erfahrung mitbringt.

STANDARD: Und Ferrari? Wird Leclerc heuer auf Dauer Verstappen gefährden können?

Berger: Man muss abwarten. Es ist der erste Schritt, schnell zu sein. Der zweite ist, Rennen zu gewinnen. Das haben bei Ferrari einige geschafft. Aber der dritte Schritt ist der schwierigste, nämlich: über mehrere Jahre Siege in Serie einzufahren. Das ist in der Neuzeit bei Ferrari nur Lauda und Schumacher gelungen. Für Red Bull spricht, dass es mit Verstappen eine klare Nummer eins gibt. Die ist bei Ferrari noch nicht gesetzt, da Leclerc mit Carlos Sainz jr. starke interne Konkurrenz hat. Beide könnten sich gegenseitig Punkte wegnehmen.

Gerhard Berger in besten Zeiten mit Ferrari.
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STANDARD: 2017 übernahm Liberty Media die Formel 1 von Bernie Ecclestone. Haben die neuen US-Eigentümer alles richtig gemacht?

Berger: Sie haben einiges richtig gemacht. Die Netflix-Serie war eine ausgezeichnete Idee, sie hat die Formel 1 in den USA populär gemacht und auf die Überholspur gebracht. Mit Las Vegas gibt es ab 2023 drei US-Rennen, das ist kein Zufall.

STANDARD: Abgesehen davon – wer hat der Formel 1, jahrelang beste Einschlafhilfe, Leben eingehaucht?

Berger: Man muss schon sagen, dass Formel-1-Sportdirektor Ross Brawn ein Meisterstück gelungen ist. Die von ihm angestoßenen Reformen sind eine Revolution. Nicht nur dass die Autos sehr gut aussehen, sie können jetzt endlich Rad an Rad fahren, ohne aerodynamisch gestört zu sein.

STANDARD: Warum genau funktioniert das jetzt plötzlich?

Berger: Durch die Veränderungen des Unterbodens verliert das Fahrzeug beim Hinterherfahren nicht mehr so viel Abtrieb wie früher. Dadurch werden die Lücken am Ausgang der Kurve nicht mehr so groß. Das hilft dem Fahrer, auf der nächsten Geraden überholen zu können. So kommt es plötzlich zu unzähligen Überholmanövern – gefühlt wird in einem Rennen öfter überholt als früher in einer ganzen Saison.

STANDARD: In Saudi-Arabien zeigten Leclerc und Verstappen fast wie Sprinter im Bahnradsport einen Stehversuch. Keiner wollte als Erster in eine Kurve gehen im Wissen, dass ihn der andere gleich danach überholen wird. Eine neue Art des Rennfahrens?

Berger: Ansatzweise hat es so etwas auch früher gegeben, zum Beispiel in Monza. Wenn du vor der Parabolica knapp geführt hast, konntest du sicher sein, dass du auf der Start-Ziel-Geraden nicht mehr Erster bist. Aber das jetzt ist noch einmal eine andere Dimension. Nicht immer und unbedingt führen zu müssen verlangt von den Fahrern enorm viel Kopfarbeit. Das gelingt auch nicht jedem so wie Verstappen oder Leclerc zuletzt in Saudi-Arabien.

STANDARD: Dass es kaum Ausfälle gibt, kommt dazu. Zu Ihrer Zeit gab es Saisonen, in denen man öfter ausgeschieden als angekommen ist.

Berger: Wir sind ständig ausgefallen. Uns ist am Ende eines Rennens der Sprit ausgegangen, ein Reifen geplatzt, oder es gab einen Motorschaden. Und plötzlich hat ein ganz anderer gewonnen. Das war ein zusätzliches Spannungselement, aber auch ein Sicherheitsproblem, weil es viele Unfälle gab. Ich würde die Zeit nicht zurückdrehen wollen.

STANDARD: Kurz noch zurück nach Saudi-Arabien. Wie sahen Sie die Aufregung nach einem Angriff der Huthi-Rebellen auf eine nicht weit von der Strecke entfernte Raffinerie? Hätten Sie dort fahren wollen?

Berger: Es sollte nicht die Aufgabe der Fahrer sein, sich zu überlegen, ob man in solchen Ländern antritt. Das ist die Aufgabe der Formel 1 und der Fia. Selbst wenn die Fahrer vorzeitig abgereist wären, hätten die Mannschaften mit allen Mechanikern und anderen Mitarbeitern dennoch dortbleiben müssen. Das wäre auch kein schönes Zeichen gewesen. Man kann darüber diskutieren, ob man in einem solchen Land einen Grand Prix fährt, aber solche Diskussionen muss man führen, bevor ein Zehnjahresvertrag unterschrieben wird, und nicht erst an einem Rennwochenende.

STANDARD: Schlimmer als dieser Anschlag war und ist wohl die Tatsache, dass Saudi-Arabien an manchen Tagen dutzende Menschen hinrichtet. Auch das war und ist bekannt.

Berger: Ja, das ist unvorstellbar, aber auch das müsste man diskutieren, ehe man unterschreibt. Was man dennoch nicht vergessen sollte: Sport bringt die Menschen, die Nationalitäten, die Religionen auch zusammen. Deshalb ist es aus meiner Sicht zu kurz gegriffen, die ganze Diskussion auf den Sport abzuschieben und von ihm zu verlangen, er soll der Welt etwas vorhüpfen. (Interview: Fritz Neumann, 9.4.2022)