Fragen zum Riesenrad beantwortet Nora Lamac wie aus der Pistole geschossen. Sie hat alle Zahlen, Daten und Fakten zum Wiener Wahrzeichen intus. Sogar mit Kommastellen. "Wie hoch?" "64,75 Meter." "Durchmesser vom Rad?" "60,96 Meter oder 200 englische Fuß." "Gewicht der Konstruktion?" "430,05 Tonnen." "Wo kommt der Stahl her?" "Aus Schottland." "Wie schnell dreht sich das Rad?" "2,7 Kilometer pro Stunde." "Das sind …" Manchmal braucht die Frage gar nicht zu Ende formuliert werden, so schnell dreht Lamac an ihrem Antwortrad. "0,75 Meter pro Sekunde, oder halbe Schrittgeschwindigkeit." "Wann wurde das Riesenrad fertiggestellt?" "Die letzte Niete hämmerte man am 25. Juni 1897 ein. Die feierliche Eröffnung war dann acht Tage später, am 3. Juli 1897. Nach nur acht Monaten Bauzeit. Also vor 125 Jahren."

Nora Lamac leitet den Familienbetrieb, zu dem das Riesenrad, ein Café, und Souvenir- und Fotoshop gehören.
Foto: Heribert Corn

Man muss die 29-Jährige, die seit zwei Jahren die Geschäfte des Riesenrads führt, schon extrem lange fragen, bis ihr ein "Ich weiß jetzt echt nicht …" entfährt. Nur, die Frage, die dazu führt, ist halt nicht unbedingt ein investigativer Geniestreich: "Ich weiß jetzt echt nicht, wie oft ich schon mit dem Riesenrad gefahren bin. Oft. Sehr, sehr oft."

Tolle Aussichten

Nora Lamac ist mit und unter dem Riesenrad aufgewachsen. Ihr Urgroßvater hat es Ende der 1950er-Jahre gekauft. Seitdem wird es als Familienbetrieb geführt. Seit Anfang 2020 hält die Familie Lamac 100 Prozent der Anteile am Riesenrad und dem dazugehörigen Café, Souvenir- und Fotoshop, die verpachtet sind. Geleitet wird das kleine Riesenradimperium mit 13 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Nora Lamac, ihrer Schwester Teresa und Mutter Dorothea. Operativ ist aber nur Nora Lamac tätig, die sich einmal in der Woche mit Mutter und Schwester zum Jour fixe trifft. "Dann wird alles besprochen, was zu tun ist."

Zu tun ist im Jubiläumsjahr einiges, wie die Geschäftsführerin erzählt, schließlich muss man ja die "alte Dame", wie das Riesenrad betriebsintern genannt wird, für die Feierlichkeiten fit machen.

Lamac führte unseren Autor auf die nagelneue Aussichtsplattform – nichts für schwache Nerven.
Foto: Heribert Corn

Einer dieser Fitmacher heißt Plattform 9. Eine Aussichtsplattform. Sie befindet sich zwischen den Wagons mit der Nummer acht und der Nummer zehn. Und sie ist eine fiese Angelegenheit: Die Plattform besteht nämlich aus Glas. Wenn man weiß, wo man hinschauen muss, sieht man das Ding bereits von weitem. Es fällt auf. Wie ein neuer Zahn im Gebiss einer alten Dame.

Steht man dann auf der Panoramaplattform, sind ein unvergessliches Erlebnis und schöner Ausblick garantiert. Nichts stellt sich dem Blick in den Weg. Es gibt weder Wände noch Dach. Man steht auf der Plattform 9 also völlig im Freien. Allerdings nicht ungesichert, denn mit Ganzkörpergurt und zwei Karabinern wird man an eine solide Stahlseilkonstruktion gehängt. Man will ja nicht bei der Open-Air-Cabrio-Runde am Riesenrad vom Winde verweht werden.

Alte Dame aufgemodelt

Sorry, das war jetzt keine besonders gelungene Filmanspielung. Aber mit Der dritte Mann geht sich der Satz nicht aus, und der Bond-Streifen Der Hauch des Todes, der das Wiener Riesenrad auch sehr prominent inszeniert, ist jetzt eine Spur zu dramatisch. Übrigens: An der Mittelachse des Riesenrads ist ein Windmessgerät angebracht, bei 60 km/h Windstärke, auf der Beaufortskala wäre das gerade noch eine Sieben respektive ein "steifer Wind", bleibt die Plattform geschlossen.

Heute aber nicht. Das ist Glück im Unglück. Warum? Dazu muss man an dieser Stelle im Text eine weitere Person einführen. Mich. Ich darf nämlich, weil das Wetter passt und es weder regnet noch stürmt noch schneit, mit Nora Lamac eine Runde auf der Plattform 9 drehen. So viel zum Glück. Dummerweise bin ich nicht schwindelfrei. Das ist das Unglück.

Schwindlige Aktion

Warum ich es trotzdem mache, hat wohl mit meinem Hang zu schwindligen Aktionen zu tun, die meistens dort ihre Heimat haben, wo sich Selbstbeschädigung, Selbstüberschätzung und Geltungsdrang High Fives geben. Ein dummes Trio.

Also: Sicherheitsgeschirr anlegen lassen, rauf auf die Plattform, einhängen und los. 1914 drehte übrigens die Zirkusdirektorin Madame Solange d’Atalide auf dem Dach eines Wagons eine Runde auf dem Riesenrad. Für einen Film. Und zwar ungesichert. Auf einem Pferd sitzend. Im Vergleich dazu komme ich mir, angeschirrt und zweifach mit fetten Karabinern gesichert, vor wie ein Esel. Aber Madame war sicher schwindelfrei, während ich mir im Vorfeld ernsthaft überlegte, mich mit Psychopax ruhig zu tropfen. Für eine Runde Riesenrad, gesichert, bei einem Topspeed von 2,7 km/h wohlgemerkt. Auf der Beaufortskala sind 2,7 km/h übrigens Windstärke ein und auch bekannt als "leiser Zug".

Gäste sollen mit der Plattform 9 das Gefühl und den Blick der Konstrukteure aus dem Jahr 1897 haben, die frei auf dieser Stahlkonstruktion stehen konnten.
Foto: Heribert Corn

"Natürlich wollten wir dem Riesenrad ein Alzerl Adrenalin verpassen, und es gibt auf anderen Riesenrädern nichts Vergleichbares. Es geht aber auch darum, unseren Gästen das Gefühl und den Blick der Konstrukteure aus dem Jahr 1897 zu vermitteln, die frei auf dieser wunderbaren Stahlkonstruktion stehen konnten", macht Nora Lamac die Beweggründe deutlich, warum es die Plattform 9 jetzt gibt. Und sie hat recht: Von der Stahlkonstruktion, die entfernt an den Eiffelturm erinnert, geht eine besondere Magie aus. Auf der fünf Zentimeter dicken Glasplatte kann man das tatsächlich spüren. Und mehr Besucher könnten dem Wahrzeichen momentan auch guttun. Denn Corona nagte auch am 125-jährigen Stahl des Touristenmagneten.

Rad der Zeit

Zählte man 2019 noch 960.000 Besucher, waren es im ersten Krisen- und Lockdownjahr nur noch 96.000. 90 Prozent weniger. 2021 waren es dann 240.000. Es ist übrigens ein Drahtseilakt, die "alte Dame" aufzumodeln, wie Lamac versichert: "Uns ist wichtig, das Riesenrad in seinem nostalgischen Charme zu bewahren und diesen auch unseren Gästen zu vermitteln. Das Grunderlebnis der Fahrt, die Konstruktion und der Antrieb sind und werden immer gleich bleiben."

Rundherum wird aber schon modernisiert, die Zeit bleibt ja auch fürs Riesenrad nicht stehen. Das älteste noch stehende Riesenrad der Welt übrigens, das nach den Plänen des Riesenraderfinders George Ferris Jr. errichtet wurde.

Ich merke, dass weniger Schwindelgefühl aufkommt, wenn ich Nora Lamac viele Fragen stelle. Auch blöde. Zum Beispiel ob sie in der Schule Riesenradbeispiele in Mathe rechnen musste – nein. Ob sie einen Riesenradendgegner hat – ja, das Ain Dubai mit seinen 260 Metern. Auch ihre Lieblinge im Prater verrät sie – Tornado und Tagada. Aber 14 Jahre ist sie ausschließlich Riesenrad gefahren. Der Grund dafür ist so klassisch, dass es ein bisschen zwickt im Zwerchfell: "Ich hab es nach der Firmung mit Essen, Trinken und Fahren übertrieben." Lamac will jetzt von mir wissen, ob ich öfters im Prater bin. "Ja. Meistens im Schweizerhaus. Dort hab ich’s auch schon übertrieben."

Hotel in der Luft

Der Höhepunkt ist überschritten. Es geht wieder runter. Gott sei Dank. Ein guter Zeitpunkt, um zu fragen, was noch geplant ist im Jubiläumsjahr. Gemeinsam mit dem Design-Hostel-Hotel "Superbude" wird ein Wagon zum Hotelzimmer umfunktioniert, erzählt Lamac. Aber den Jubiläumshöhepunkt liefert zwischen 25. Juni und 2. Juli das Theaterensemble Nesterval. Riesenrad und Areal werden zur Bühne eines immersiven Theaterstücks. Der Plan: "Unsere Gäste werden durch die Geschichte des Wiener Riesenrads geführt und begegnen einzigartigen Persönlichkeiten wie dem Kaiser oder auch Falco. Und das alles mit dem regulären Ticket für die Fahrt."

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich diesem Zeitraum keine Riesenradrunde drehen werde. Höhenschwindel schön und gut, aber meiner Angst vor interaktiven, immersiven Theater will ich mich echt nicht stellen. So viel Psychopax gibt’s nämlich gar nicht. (Manfred Gram, 11.4.2022)