Gern hätten wir Hanna Burkart für dieses Gespräch besucht. Doch das ist in ihrem Falle ein schwieriges Unterfangen und hat ausnahmsweise nichts mit der Pandemie zu tun. Die Künstlerin ist nämlich eine ganz besondere Nomadin.

Ihre Wohnung in Wien hat sie schon vor Jahren aufgegeben. Sie übernachtet in leerstehenden Fabriken, Garagen, Ställen, Kantinen oder Hütten. Als wir dieses Gespräch mit ihr führten, weilte sie im Südsenegal in der Region Casamance.

Foto: Hanna Burkart, Bildrecht, Wien 2022 (21/08-22/08/21, Not Vital, „House to watch the sunset“, Tarasp, CHE)

Ihre Serie "Schlafen International" initiierte sie bereits vor einigen Jahren als Kunstprojekt. Doch gerade jetzt, in einer Zeit, in der Menschen in Europa vor dem Krieg flüchten müssen, erfährt Burkarts Schaffen eine zusätzliche politische Komponente. Zur aktuellen Lage möchte sie sich aber nicht äußern.

Aus einem rein künstlerischen Blickwinkel kann man sagen, Burkart "erwohnt" Orte und geht diesem Wohnen mit all seinen Alltäglichkeiten auf den Grund. Dies dokumentiert sie in erster Linie durch Fotos und Texte, in weiterer Folge entstehen ortsbezogene Zeichnungen, Objekte und Installationen.

STANDARD: An wie vielen Orten haben Sie in den letzten Jahren geschlafen?

Burkart: Meine Serie "Schlafen International" habe ich im Juni 2017 begonnen. Es ist die fortlaufende Dokumentation jedes neuen Schlafplatzes von mir. Zwischen 3. Mai 2017 und 3. Dezember 2021 waren es 373 verschiedene Orte.

Hanna Burkart studierte Industriedesign und Ortsbezogene Kunst.
Foto: Hanna Burkart, Bildrecht, Wien 2022 ("In Linen", 01/22, Abéne, SEN)

STANDARD: Sie schliefen in Autos, in Booten, in Lagerhallen, in Schlössern, auf Bauernhöfen, im Freien, in Hotels und an vielen anderen Orten. Gibt es eine Nacht, die Sie als schönste bezeichnen würden?

Burkart: Nein, es gibt nicht die eine schönste. Die besten Nächte sind jene, die man mit Menschen verbringt, die man sehr mag. Mehr als um die Nacht selbst geht es um das, was vor dieser Nacht geschah. Wie komme ich zu einem Schlafplatz? Welche Geschichten entstehen? Wo und wie werde ich aufwachen?

STANDARD: Welche Nacht war die schrecklichste und warum?

Burkart: Da gibt es mehrere. Meistens sind es jene, in denen ich Angst habe. Wenn diese Angst noch mit einer räumlich schrecklichen Atmosphäre kombiniert ist, dann ist es schlimm. Das Einzige, was dann hilft, ist das Wissen, dass die Nacht vergeht. In solchen Momenten bin ich sehr dankbar über die Vergänglichkeit, also über das Vergehen der Zeit.

STANDARD: Warum tun Sie das eigentlich?

Ein Dach über Wien – Hanna Burkart inszeniert in ihrer Serie "Schlafen International" Schlafplätze an den verschiedensten Orten.
Foto: Hanna Burkart, Bildrecht, Wien 2022 (27/07–27/07/19, Vienna roofs)

Burkart: Was? Schlafen? Weil ich muss. Nein, im Ernst. Ich schlaf einfach gerne anderswo anstatt zu Hause. Das war als Kind schon so. Es liegt an meiner Neugierde für Orte und Menschen. Die Nacht woanders zu verbringen gibt mir die Möglichkeit, Plätze oder Leute näher kennenzulernen. Es entsteht eine Intimität, und dadurch kann eine tiefe Auseinandersetzung mit Gegebenheiten geschehen. Das mag ich.

STANDARD: Küchenpsychologisch könnte man vermuten, Sie laufen vor irgendetwas davon …

Burkart: Ich würde sagen, ich bin unterwegs, um dem Ankommen näherzukommen. Und ich glaube, dieses Davonlaufen würde sich genauso in konventionellen Lebensstilen verbergen. Wenn man eine fixe Arbeit hat, eine Wohnung oder ein Haus, eine Familie, dann benützt man diese Verpflichtungen gerne als Grund, um nicht wegzukommen, um nicht dem nachzugehen, was man wirklich will. Zurzeit habe ich das Privileg, von Verpflichtungen befreit zu sein. Das ist mein Kapital, und das setzte ich so ein, wie ich es gerade tue.

STANDARD: Was war die Initialzündung für Ihr Projekt?

Burkart: Eine zweimonatige Reise im Sommer 2015, die damit begann, dass ich mich aufs Motorrad setzte, um für zwei Tage Freunde in Kärnten zu besuchen. Daraus wurden zwei Monate, in denen ich nie wusste, wo es am nächsten Tag hingeht. Es war schwierig, mit dieser Unwissenheit umzugehen und immer wieder Entscheidungen treffen zu müssen. Gleichzeitig war es wunderbar zu sehen, was kommt, wenn man nichts weiß. Ich bin Menschen begegnet, die anders leben, und ich habe festgestellt, dass ich mich lieber habe, wenn ich auf Reisen bin. Ich bin offener, flexibler, bescheidener. Auf dieser Reise habe ich beschlossen, meine schöne Wiener Altbauwohnung aufzugeben und eine andere Art des Daseins auszuprobieren.

Eine Kapelle in Bregenz
Foto: Hanna Burkart, Bildrecht, Wien 2022 (30/06–30/06/21, AUT/Martinskapelle Bregenz)

STANDARD: Welche sind die zähesten Probleme, mit denen Sie konfrontiert werden?

Burkart: In meiner Arbeit konfrontiere ich mich mit der Unsicherheit von Grundbedürfnissen wie einem geregelten Einkommen und einem fixen Wohnsitz und Arbeitsplatz. Es gibt dann immer wieder diese Situation des "Nicht-wissen-Wohin". Es kommt schon vor, dass ich mich frage, warum ich das überhaupt mache. Aber es ist genau diese Ungewissheit, die mich anzieht, die mich fordert, die mich weiterbringt.

STANDARD: Wie finanzieren Sie Ihre Reisen?

Burkart: Es handelt sich oft um Reisen, die mit Projekten verbunden sind, die entweder im Voraus finanziert sind oder im Nachhinein durch den Verkauf von Kunstwerken finanziert werden.

STANDARD: Was machen Sie, wenn Sie irgendwo in der Pampa Hunger bekommen?

Burkart: Fasten oder die eine oder andere Blume essen.

STANDARD: Echt? Sie essen Blumen?

Burkart: Sie nicht?

STANDARD: Wenn, dann nur aus Marzipan. Frau Burkart, ist es bei Ihrem Nomadentum möglich, eine Partnerschaft zu leben?

Ein Heuboden in Italien
Foto: Hanna Burkart, Bildrecht, Wien 2022 (29/08–30/08/19, Am Ritten, ITA)

Burkart: Es geht nicht um ein Ja oder Nein, sondern um das Wie. Wie viele Paare leben am selben Ort und sehen sich kaum, weil Mann oder Frau auf Geschäftsreise ist. Und selbst wenn man sich ständig sehen kann, ist das ja kein Garant für eine gelungene Beziehung! Ganz im Gegenteil! Unsere Menschheitsgeschichte haben wir als Nomaden begonnen, und dies waren wir für sehr lange Zeit.

STANDARD: Welche Beziehung haben Sie zum Thema Schlaf? In der Mythologie wird er als Bruder des Todes bezeichnet.

Burkart: Es handelt sich bestimmt um eine Art von Tod, weil wir in einen anderen Bewusstseinszustand treten. Schlaf bedeutet eine Art Produktivität, während der wir anscheinend unproduktiv sind. Schlaf steht auch für einen Kontrollverlust. Was passiert, wenn wir loslassen? Im Schlaf machen wir uns verletzbar. Diese Zerbrechlichkeit offenzulegen ist mir eine wichtige Geste.

STANDARD: Wann ist Schluss mit dem Ganzen? Wann nehmen Sie sich eine Wohnung, füllen einen Meldezettel aus und kaufen Möbel?

Burkart: Das habe ich doch schon hinter mir. Wohnung, Möbel und all das. Ich weiß nicht, wann oder ob überhaupt je Schluss damit sein wird. Viele Menschen brauchen einen Plan, um sich in ihrem Leben zu orientieren. Dabei weiß keiner, was kommt. Ich habe keinen längerfristigen Plan. Ich tue das, solange ich es gerne tu.

STANDARD: Was macht ein gutes Bett aus?

Ein Auto in einem italienischen Wald
Foto: Hanna Burkart, Bildrecht, Wien 2022 (23/09–23/09/19, Woods of Turin, ITA)

Burkart: Grundsätzlich sind mir Leinen und Laken wichtiger. Damit kann ich mich vor Licht, Einsicht, Gestank und Kälte schützen. Sie spenden mir Wärme und Vertrautheit. Ich habe immer allerhand Decken mit mir mit. Die verwende ich zum Schlafen, aber auch als Arbeitsmaterial. Ich zeichne auf Leintüchern, und meine letzte Arbeit ist ein aus einem alten Leintuch gefertigter Anzug. Ein Anzug deshalb, weil ich es wichtig finde, den Schlaf viel ernster zu nehmen. Er steht über der Arbeit, ist sozusagen die wichtigste Arbeit überhaupt! Ohne Schlaf wären wir zu gar nichts in der Lage.

STANDARD: Manche Ihrer Bettstätten kommen wie aus dem Hochglanzmagazin rüber, andere eher schmuddelig. Welche Rolle spielt Ästhetik in Ihren Settings?

Burkart: Es gibt zwei verschiedene Situationen. Jene, in denen ich meinen eigenen Schlafplatz kreiere, also ein Schlafsetting gestalte, um dort zu übernachten. Und die anderen Schlafplätze, die bereits vorgefunden werden und höchstens mit eigenem Leintuch oder Decke ergänzt werden, also zum Beispiel Hotelzimmer oder Betten bei Privatpersonen. Ästhetik hat für mich etwas mit Wohlfühlen und Freude zu tun. Wenn ich an einem noch so runtergekommenen Ort übernachte, dann funktioniert das, weil ich mir innerhalb des Raums einen Platz schaffe, an dem ich mich wohlfühle und dadurch zur Ruhe kommen kann.

STANDARD: Was tun Sie eigentlich, wenn Sie nicht einschlafen können?

Burkart: Wachbleiben. Das Beste ist – wie bei allem im Leben, wenn etwas nicht so funktioniert, wie man es will – es zu akzeptieren und loszulassen.

STANDARD: Auf Instagram sieht man Sie immer wieder in einem schicken Cabrio romantische Landstraßen entlangfahren. Das sieht eher nach dem Leben eines Models aus als dem einer Nomadin.

Burkart: Models sind ja auch Nomadinnen. Genauso wie Politiker, manche Handwerker oder Landwirte. Fast jeder kann das sein. Und heutzutage, würde ich meinen, leichter als früher. Außerdem liebe ich Autos, und ich brauche ein Auto für mein Projekt. Das Offene ist mir wichtig, auch symbolisch gesehen. Offen Auto zu fahren ist auf vielen Ebenen etwas anderes. Daher das Cabrio. Und die romantischen Landstraßen wähle ich, weil ich es bevorzuge, Bundesstraßen anstatt Autobahnen zu nehmen, um die Gegenden zwischen A und B kennenzulernen.

Auch eine Klippe an der Küste von St. Tropez funktioniert Künstlerin Hanna Burkart zur Schlafstätte um.
Foto: Hanna Burkart, Bildrecht, Wien 2022 (21/09–21/09/19, St.Tropez, FRA)

STANDARD: Wie wichtig sind Ihnen Dinge? Viel dürften Sie ja in der Regel nicht dabeihaben, oder?

Burkart: Zu wichtig vielleicht. Jetzt, wo ich gerade in Afrika lebe, fällt mir das noch mehr auf. Die Menschen hier haben fast keinen eigenen Besitz und wenig Bezug zu Eigentum. Ich frage mich oft, warum mir dieses oder jenes so wichtig ist. Dinge sind für mich Kommunikationsmittel. Sie können mir Freude bereiten. Wenn sie sich gut anfühlen, schöne Farben haben, passende Formen. Sie können von Orten und Menschen erzählen, Informationen weitergeben, Vertrautheit schaffen. Dass ich Dinge mag, war mitunter auch ein Grund, nomadisch zu leben. Als ich noch eine fixe Bleibe hatte, merkte ich, dass ich eine Tendenz habe, Dinge zu sammeln. Das kann ich mittlerweile nur sehr beschränkt. Gleichzeitig ist es schön zu wissen, dass man nicht viel braucht. Dinge zu haben ist in Ordnung, solange sie einen nicht besitzen und nicht im Tun einschränken.

STANDARD: Also stimmt der Spruch "Besitz belastet"?

Burkart: Alles ist doch belastend, wenn es zu viel ist. Jeder und jede muss für sich herausfinden, was wirklich nötig ist, um so zu leben, wie man leben möchte.

STANDARD: Neben dem Schlafen ist Ihnen auch das Gehen ein Anliegen. Was hat es damit auf sich?

Burkart: Das Gehen kam vor dem Schlafen. Zumindest in meinen Arbeiten. Es hat 2012 begonnen, als ich Landschaftsdesign an der Wiener Angewandten studierte. Die Frage, die ich mir stellte, lautete, wie kann ich eine Landschaft bestmöglich erfahren. Die Antwort lag im Gehen. In weiterer Folge kam das Schlafen dazu, um einen konkreten Platz zu erleben.

STANDARD: Sie kennen mittlerweile bestimmt jedes Sternbild.

Burkart: Schön wäre es. Doch dann dürfte ich nicht an den Orten schlafen, sondern müsste die Nächte durch den Sternenhimmel studieren. (Michael Hausenblas, RONDO, 17.4.2022)