Es herrscht Aufregung im Rudel. "Warst du schon bei IWC?", fragt der Kollege. "Wieso?", fragt seine Kollegin. "Die haben dort das beste Handdesinfektionsgel." "Findest du?", mischt sich ein Dritter ein, "ich fand das bei Patek super." "Echt? Was für eines haben die?" So gehen also Uhrenmessen anno 2022. Nicht Zeitmesser, sondern die Beschaffenheit des Desinfektionsmittels steht im Vordergrund.

Der Weg von Basel nach Genf war auf der Watches & Wonders nicht weit. Denn die prestigeträchtige Halle 1 der verblichenen Baselworld fand quasi 1:1 nachgebaut ihren Platz in den Messehallen der Palexpo.
Foto: FONDATION DE LA HAUTE HORLOGERIE/KEYSTONE/Cyril Zingaro

Selbstverständlich ist das ein wenig überzeichnet, aber das Virus und die Angst davor waren latent Thema auf der Watches & Wonders (W&W) in Genf, die nach zwei digitalen Editionen heuer zum ersten Mal auch in physischer Form stattfand. Die Uhrensause ging vom 30. März bis 5. April über die Bühne. Weitgehend unmaskiert, weil die Schweizer schon länger ein eher lockeres Regime führen.

Die Messe, Nachfolgerin des Salon International de la Haute Horlogerie, lockte Journalistinnen, Blogger, Händlerinnen, Sammler aus aller Welt nach Genf. 20.000 sollen es insgesamt gewesen sein. Sie bewunderten und befühlten die neuesten Schmankerln der Hohen Uhrmacherkunst, die die insgesamt 38 Marken den geladenen Gästen exklusiv präsentierten.

Nahm acht Jahre Entwicklung in Anspruch: die Masse Mystérieuse von Cartier.
Foto: Hersteller

Es wurde gefachsimpelt, kritisiert, man lauschte Keynotes, verfolgte Diskussionen ... freute sich vor allem darüber, einander nach zwei Jahren wieder persönlich zu treffen – und endlich wieder Uhren in der Hand zu halten, die nur die wenigsten je live zu Gesicht bekommen werden.

Familiengefühle

Man hätte fast ein bisschen sentimental werden können. Das Ganze erinnere ihn an ein Klassentreffen, gab Laurent Perves, International Commercial Director bei Vacheron Constantin, zu Protokoll: "Es ist sehr schön zu sehen, dass die Uhrenindustrie schon immer eine Familie war."

Ein "Talking Piece" der Watches & Wonders: Die Zeitanzeige tritt bei der Knights of the Round Table von Roger Dubuis mit Monotourbillon eindeutig in den Hintergrund.
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Emmanuel Perrin schlägt in die gleiche Kerbe: "Es fühlt sich großartig an, alle haben genug von Zoom und davon, sich nicht treffen zu können." Sollte jemand daran gezweifelt haben, ob Messen überhaupt noch einen Sinn hätten, sei dies hiermit ausgeräumt, fügte der Vizepräsident der W&W an.

Tatsächlich ist die Leistungsschau so etwas wie eine Überlebende, die letzte große Uhrenmesse der Welt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Konkurrenzveranstaltung, die Baselworld, mausetot ist. Der Abgang der wichtigsten Marken hatte ihr Schicksal, noch vor Corona, besiegelt. Rolex, Patek Philippe, Chopard, Zenith ... sie alle sind nun in Genf.

Kosmopolitische Zeitzonenuhr: Parmigiani Fleuriers Tonda PF GMT Rattrapante.
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Und so ist der Weg in die ehemalige, prestigeträchtige Halle 1 der Baselworld kurz. Sie wurde 1:1 in den weitläufigen, dezent beige-braun-weiß ausgekleideten Räumen der Palexpo wiedererrichtet, samt den palastähnlichen Ständen der "Maisons". Ein augenzwinkerndes "Mein nächster Termin ist in Basel" wurde im Laufe der Veranstaltung schon fast zum geflügelten Wort.

Kollateralschaden

Mühsam habe man in Italien nach den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern jener mittlerweile bankrotten Firma suchen müssen, die damals den Stand in Basel betreute und aufbaute, erzählte Chopard Co-Präsident Karl-Friedrich Scheufele schon im Vorfeld der Messe von einem Kollateralschaden, der sich aus dem Niedergang der Baselworld und der Pandemie speiste. Letztendlich gelang es, das Puzzle wieder zusammenzusetzen, und Chopard bezog seinen aus Basel bekannten Stammplatz neben Patek Philippe, gegenüber von Rolex.

Spitzname "Sprite": Rolex’ neue schwarz-grüne GMT Master II für Linkshänder.
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Im Laufe der W&W zeigte sich, dass die Nachfrage nach Luxusuhren hoch ist. Die Stimmung bei den meisten Marken war gelöst, man erzählte von Bestellungen, die alle Erwartungen überträfen, von ausverkauften Modellen. Ist da dem einen oder der anderen bereits der Champagner zu Kopf gestiegen? Wird schamlos übertrieben?

Zufrieden

Die Zahlen sprechen gegen diese Vermutung, denn die Luxusuhrenbranche hat sich schon 2021 sehr gut geschlagen. Für die gesamte Schweizer Uhrenindustrie sind zwar die Stückzahlen im Export deutlich gesunken, durch höhere Preise fiel das Fazit trotzdem positiv aus. "Rekord", lautete das Resümee zum Jahresabschluss 2021, dank Ausfuhren im Wert von 21,2 Mrd. Franken (rd. 20,8 Mrd. Euro). Das ist mehr, als das bisherige Spitzenjahr 2014 einbrachte.

Jahreskalender Travel Time Ref. 5326G-001 im Calatrava-Gehäuse von Patek Philippe.
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Der Luxusgütergigant LVMH (mit Zenith, TAG Heuer und Hublot auf der W&W vertreten) gab bekannt, dass der Absatz in der Sparte Uhren & Schmuck 2021 um satte 40 Prozent über dem Vorjahr gelegen habe und sogar am Prä-Covid-Rekordjahr 2019 mit sieben Prozent vorbeigezogen sei. Das Gesamtergebnis der Gruppe lag bei 64 Milliarden Euro.

Der zweitgrößte Luxusgüterkonzern, Richemont, vertreten mit Cartier, A. Lange & Söhne, Roger Dubuis, IWC etc., profitierte von seiner starken Stellung im Schmuckgeschäft. Der Absatz mit Geschmeiden von Cartier, Buccellati und Van Cleef & Arpels wuchs im dritten Geschäftsquartal 2021 um 38 Prozent auf 3,34 Mrd. Euro. Bei den Luxus-Zeitmessern betrug das Plus 25 Prozent.

Titan und mit hauseigenem Kaliber: die Pro Pilot X Calibre 400 des Familienunternehmens Oris.
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Zufrieden zeigte man sich auch bei der Swatch Group, deren Marken nicht auf der W&W vertreten waren: Mit rund 30 Prozent Umsatzplus im Vergleich zu 2020 und operativen Margen im Bereich Uhren und Schmuck von rund 18 Prozent spürt man auch hier ein warmes Lüfterl.

Generation Z

Was die Branche aktuell und in Zukunft bewegt, wird etwa bei Panerai ersichtlich. Das Thema Nachhaltigkeit ist angekommen. "Don’t call it Schrott!", witzeln wir, während mit ernster Miene davon gesprochen wird, dass die Marke mit italienischen Wurzeln bei einigen Modellen auf recyclten Stahl setzt – oder sich beim Schutz der Meere engagiert.

Aus recyceltem Stahl: die Submersible Quarantana Quattro eSteel von Panerai.
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Chopard wiederum bezieht schon länger nur noch ethisches Gold, Oris ruft unter dem Motto "Change for the Better" seine Kunden unter anderem zum Müllsammeln auf, IWC setzt bei seiner neuen Produktionsstätte auf Solarenergie, Rolex ist schon lange Vorreiter, wenn es um Sozial- oder Umweltschutzprojekte geht.

Warum das Ganze? Ist es Greenwashing? Wohl kaum. Denn die Industrie hat – nicht nur, aber auch – die Generation Z im Auge. Jene Menschen, die zwischen 1997 und 2012 geboren wurden und für die Nachhaltigkeit, Transparenz, Inklusivität und Gender-Gerechtigkeit nicht verhandelbar sind. Sie sind die Luxusuhrenkunden von morgen.

Vacheron Constantin feiert mit der Historiques 222 die legendäre "Jumbo" von 1977.
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In diesem Zusammenhang kann auch der Fokus auf den Secondhand-Uhrenmarkt gesehen werden: Ein mechanischer Zeitmesser, wohl gepflegt, funktioniert über Jahrzehnte und kann immer wieder repariert werden. Zudem sind Uhren aus zweiter Hand schon jetzt ein Milliardengeschäft, eines, das noch weiterhin wachsen wird. Es ist daher nur konsequent, wenn man am Panerai-Stand auch der Pre-Owned-Plattform Watchfinder ein Platzerl freigeräumt hat.

Auch A. Lange & Söhne setzt auf Titan: Die Farbe "Eisblau" ziert die Odysseus.
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Und Russland? Der Krieg bewog die Luxusmarken, sich von dort zurückzuziehen, zu spenden, sich mit der Ukraine solidarisch zu zeigen. Russland importierte 2021 Schweizer Uhren für umgerechnet 250 Millionen Euro. Damit ist fürs Erste Schluss. Einen Dämpfer, den man in Kauf nimmt.

Hohe Reichweite

Das Resümee der Veranstalter fiel jedenfalls positiv aus. 350 Millionen Menschen will man erreicht haben, 800.000 Beiträge mit dem Hashtag #watchesandwonders auf verschiedenen Social-Media-Plattformen und anderen digitalen Kanälen wurden gezählt.

Welche Trends ließen sich in Bezug auf Zeitmesser ablesen? Die gezeigten Stücke, oft stark von bestehenden Kollektionen beeinflusst bzw. vom umfangreichen "Backkatalog" der traditionsreichen Marken, bestätigen den allgemeinen Trend zu austauschbaren Armbändern und Modellen mit mit immer längeren Gangreserven. Die vielen verschiedenen GMT-Uhren konkurrieren mit Chronographen, die oft Teil eines sportlich-schicken Looks sind. Es gab zahlreiche Modelle mit Minutenrepetition zu sehen, skelettiertem Uhrwerk oder Tourbillon. Die dürften Sammler ebenso begeistern, wie die reich mit Intarsien verzierten Zifferblätter, die das Kunsthandwerk in den Vordergrund stellen.

Die Farbe der Keramikuhr Pilot's Watch Chronograph Top Gun Edition "Woodland" von IWC Schaffhausen ist jetzt offizieller Teil des Pantone-Farbfächers.
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Neben Uhren aus Stahl, Platin und Gelbgold, das nach wie vor sehr beliebt ist, findet Titan, offenbar immer mehr Anhänger. Die bevorzugten Farben sind nach wie vor Blau und Grün, auch wenn Schwarz ein deutliches Comeback feiert. IWC Schaffhausen hat sich die Farben seiner Pilot's Watch Keramik-Chronographen aus der Top Gun-Edition wie das dunkelgrüne "Woodland" gleich mal von der Farb-Instanz Pantone spezifizieren lassen. (Markus Böhm, RONDO, 17.4.2022)