Marie Sophie Wilson ist hungrig und entschuldigt sich, dass sie während unseres Whatsapp-Interviews ein Butterbrot isst. Gestern kam sie mit dem Zug in ihrem Haus in Südfrankreich an, ein angenehmer Kontrast zu der Modewelt in Paris. Vergangenen September wurde sie sechzig Jahre alt. Seit 25 Jahren ist sie verheiratet, ihre beiden Kinder studieren.

Marie Sophie Wilson galt als Charaktergesicht. Sie eroberte von Paris über New York die Modewelt, bewahrte sich aber immer ihren Eigensinn.
Foto: Carlotta Mainaigo / Numéro China

Wir lernten uns Mitte der 1980er-Jahre bei einer meiner ersten Modeschauen in Paris für Helmut Lang kennen. Er war überglücklich, das damals schon sehr erfolgreiche Model engagieren zu können. Für mich war sie das, was sie bis heute ist, nämlich "beyond cool".

Allein wie sie sich kleidete: grauer Miniflannelfaltenrock, grauer Pullover und schwarze Dr. Martens. Ihr Haustier war eine Ratte, die auf den Namen Poison Ivy hörte und sie auf ihren Reisen begleitete. Sie lebte in New York, arbeitete viel mit Peter Lindbergh, spielte Schlagzeug in einer Punkband und sah aus wie eine Mischung aus Meryl Streep und einem Madonnenbild aus der Renaissance – eine klassische Schönheit mit einem Touch Melancholie.

Jahre später waren wir eng befreundet, während der Pariser Modewochen wohnte ich bei ihr. Es gab immer selbstgekochtes Essen, gute Musik und Weine. Nach wie vor zählt sie zu den bodenständigsten und beliebtesten Models in der Branche. Im Frühjahr führte sie in Paris das erste Mal Couture von Valentino vor. Ein Ritterschlag in der Modewelt.

Marie Sophie Wilson in Valentino Couture.

STANDARD: Neulich habe ich ein Foto von dir mit Dr. Martens, im Schottenrock und John-Galliano-Mantel gesehen. Dein Stil hat sich seit den 1980ern nicht wesentlich geändert.

Marie Sophie Wilson: Stimmt, ich bin ein alter Punk! Ich gebe nicht viel Geld für Kleider aus, das wird sich auch nicht ändern. Die Modeschau bei Valentino war interessanterweise klassisch und elegant, das dunkle Augen-Make-up hingegen total Punk.

STANDARD: Auch deine weiße Haarfarbe ist ziemlich punkig. Ist sie natürlich?

Wilson: Klar. Ich habe mir jahrelang von dem Friseur Christophe Robin blonde Strähnen machen lassen, er färbt auch Catherine Deneuves und Tilda Swintons Haare. Vor sechs Jahren habe ich nach einem Job entschieden, damit aufzuhören. Von dem vielen Färben waren meine Haare strapaziert, sie fielen aus. Es dauerte ziemlich lange, bis das Blond herauswuchs und ich meine natürliche Haarfarbe hatte.

STANDARD: Warst du mit dem Silbergrau dem Zeitgeist voraus?

Wilson: Trends sind mir egal. Ich habe kein Problem mit meinem Alter, meinen Falten oder meiner Haarfarbe. Ich bin sechzig Jahre alt, und ich schaue aus wie eine sechzig Jahre alte Frau. Ich glaube, man kann mit weißen Haaren auch wie eine Oma ausschauen, mit meinem Kleidungsstil aber sicher nicht.

STANDARD: Gibt es Kleidung, die du heute nicht mehr trägst?

Wilson: Na klar, alle meine wunderschönen kurzen Kleider aus den 1960er-Jahren, die ich auf Flohmärkten in den USA gefunden habe, würde ich nicht mehr tragen. Ich würde aussehen wie eine ältere Frau, die versucht jung zu sein. Bloß nicht, es gibt Grenzen. Sexy Kleider waren ohnehin nie mein Stil. Azzedine Alaïa schenkte mir viele davon. Wenn ich sie getragen habe, dann mit meinen Dr. Martens.

STANDARD: Du arbeitest seit vierzig Jahren als Model. Wie gehst du mit körperlichen Veränderungen um?

Wilson: Die Wechseljahre sind für Frauen eine schlimme Zeit. Der Körper spielt verrückt, ich zum Beispiel wurde plötzlich runder. Sich im eigenen Körper nicht mehr wohlzufühlen war unangenehm. Ich beschloss, abzunehmen. Das habe ich als junges Model nie machen müssen. Ich gehe bis heute nicht ins Gym und mache keinen Sport. Ich esse und trinke gerne und gut. Ich bin Französin und in meinem Herzen Italienerin. Genuss gehört zu meinem Leben. Ich würde mich auch niemals wie manche Kolleginnen in sexy Posen im Bikini auf Instagram zeigen. Aber jeder das Ihre!

STANDARD: Heuer hast du das erste Mal Haute Couture vorgeführt. Wieso so spät?

Wilson: Nicht ganz, meine erste Couture-Show war vor vier Jahren für Schiaparelli. Aber stimmt, das ist sehr spät für eine so lange Modelkarriere. Umso mehr freue ich mich darüber. Die Couture-Show von Valentino war sehr speziell – engagiert wurden Frauen unterschiedlichen Alters und verschiedener Körpergrößen. Das war eine Premiere für die Haute Couture. Die Kleider waren klassisch, nicht abgehoben. Auch war die Modenschau mit nur fünfundsechzig geladenen Gästen sehr intim. Dementsprechend feierlich und entspannt war die Atmosphäre. Ich kam mir ein bisschen wie "la signoria de la casa" vor, die in ihrem exquisiten Kleidungsstück durch die Räume führte.

STANDARD: Wie war es, mit Frauen zu arbeiten, die jünger als deine Tochter sind?

Wilson: Ich habe mich wohlgefühlt und hatte genauso viel Spaß, wie in den 1980ern und 1990ern. Es hat sich aber viel verändert. Früher führte man drei oder vier Outfits vor, heute nur ein einziges Kleidungsstück. Früher wurden Models auch in Couture-, Pret-à-porter- oder Print-Models unterteilt. Es hieß oft: "Sie ist zu Couture" oder "Sie ist zu Katalog". Diese Grenzen sind lange aufgelöst, auch was Alter und Körpergrößen angeht. Und heute fotografieren sich alle in verschiedenen Posen für Instagram. Selfies galore!

Seit sechs Jahren trägt Marie Sophie Wilson ihre Haare silbergrau. Die Kampagne für Zara fotografierte Steven Meisel.
Foto: Steven Meisel, Zara

STANDARD: Fließt der Champagner noch in Strömen?

Wilson: Schon lange nicht mehr. Das ist auch besser so. Früher wurde vor und nach jeder Show mit Champagner angestoßen. Wenn man während der Modewochen in Mailand, Paris oder New York vier oder fünf Shows am Tag machte, hatte man am Ende des Tages eine ziemliche Breitseite. Auch backstage zu rauchen ist heute undenkbar.

STANDARD: Es heißt, dass die 1980er und 1990er viel lustiger und freier waren.

Wilson: Für mich war es lustiger, weil ich jünger war. Ich begann mit 21 Jahren zu arbeiten und hatte damals noch eine Privatsphäre. Die gibt es ja heute nicht mehr.

STANDARD: Wie ging es los mit deiner Karriere?

Wilson: Einer meiner ersten Jobs wäre gleich einer mit dem Fotografen Paolo Roversi in Paris gewesen. Es ging um Aufnahmen für Schmuck. Als ich ins Fotostudio kam, fielen meine abgekauten Nägel auf. Damals gab es keine Maniküre am Set, man musste mich wieder nach Hause schicken. Aber Paolo schlug mir vor, mich bei der Agentur City Models vorzustellen. Sie galt als fortschrittlich, gegründet hatte sie Louise Despointes. Man nahm mich unter Vertrag, und ich blieb in Paris. Mit 21 habe ich mich für meinen ersten wichtigen Job für das Magazin Harpers & Queen in Ägypten das erste Mal in ein Flugzeug gesetzt. Als Louise eine Agentur in New York aufmachte, fragte sie mich, ob ich nicht dort arbeiten wolle. Ich flog für zwei Wochen hin. Daraus wurden sechs Jahre.

STANDARD: Keine schlechten Erinnerungen an das Business?

Wilson: Es ist seltsam, dass niemand darüber redet: Die Einsamkeit eines Models ist schrecklich. Ich verbrachte viele Jahre auf Flughäfen, in Flugzeugen, Hotels und Fotostudios. Auf Partys war es oft nicht wahnsinnig lustig. Man sah toll aus, aber die Männer trauten sich kaum, einen anzusprechen.

STANDARD: Inzwischen klagen viele Ex-Models über sexuelle Übergriffe, die damals stattfanden. Warst du nie betroffen?

Wilson: Nein. Und wenn so etwas passiert wäre, hätte der Typ einen Kopfstoß von mir bekommen. Ein Täter weiß, auf wen er sein Ziel richtet. Schrecklich, aber wahr: Keine Branche ist vor sexuellem Missbrauch gefeit.

STANDARD: Gérald Marie, dem Ex-Chef der Modelagentur Elite, werden sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen vorgeworfen. Wir alle kannten ihn als Mann unserer Kollegin Linda Evangelista ...

Wilson: Gérald ging man aus dem Weg. Er war der Prototyp eines schmierigen französischen Playboys. Er war mächtig, deshalb gingen junge Frauen, die zu arbeiten versuchten und hofften, berühmt zu werden, mit ihm aus. Da entstand ganz schnell eine Abhängigkeit. Viele Kolleginnen gingen mit Trump oder Epstein aus. Manche ließen sich von Geld und Macht beeindrucken und hofften auf den amerikanischen Traum. Ich war nie ein Teil dieser Szene, ich war damit beschäftigt, mir ein Leben aufzubauen. Die wenigsten denken daran, dass viele Models zu Hauptversorgerinnen einer ganzen Familie wurden, so wie ich. (Cordula Reyer, RONDO, 19.4.2022)