Da Bai – so heißen die Beamten in Ganzkörperschutzanzügen. "Großer Weißer", das klingt niedlich, beinahe liebevoll. Und tatsächlich gibt es unter den zehntausenden Da Bais, die gerade ihren Dienst während des Lockdowns in Schanghai verrichten, auch etliche, die sich aufopfernd und empathisch um ihre Mitbürger kümmern. Das aber soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in Schanghai derzeit ein Albtraum abspielt, der sich zu einer humanitären Katastrophe zu entwickeln droht.

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Weil trotz striktester Lockdowns die Corona-Zahlen in Schanghai nicht zurückgehen, baut China neue Covid-Quarantänestationen. Dort aber will niemand hin.
Foto: AP / Ding Ting

Die Informationen, die derzeit von Schanghai nach außen dringen, sind spärlich: Schließlich dürfen auch die wenigen verbliebenen Journalisten ihr Haus nicht verlassen. Zudem zensiert der chinesische Propaganda-Apparat so schnell wie möglich Fotos und Videos, die nicht dem Bild entsprechen, das die Regierung vermitteln will. Und doch schaffen es täglich immer wieder Aufnahmen und Berichte über die sozialen Medien in die Welt.

"Wir haben Hunger"

Gestern Nacht zum Beispiel versiegeln Da Bais eine Haustür in der Anfu Lu – eigentlich eine der schönsten und besonders pittoresken Straßen in der ehemaligen Französischen Konzession. Der Sinn der Aktion: Man will auf diese Weise sichergehen, dass sich in den kommenden Tagen kein Bewohner ins Freie bewegt. Auf dem Video halten sie einen verzweifelten älteren Mann mit Eisenstangen auf 1,5 Meter Sicherheitsabstand und stoßen ihn immer wieder gegen ein Geländer.

An anderer Stelle versuchen die Da Bais, eine aufgebrachte Menschenmenge in Schach zu halten. Viele der Leute haben seit Tagen kein oder nicht ausreichend Essen erhalten, weil Versorgung und Lieferungen an ihre Grenzen geraten und die Zustellung wegen der strengen Quarantänebestimmungen zudem schwer ist. Sie protestieren lautstark. "Wir haben Hunger." Auch wie die Männer in Weiß Katzen und Hunde totschlagen, weil diese nach Sicht der chinesischen Fachleute Virus-Überträger sein können, ist mittlerweile mehrfach auf Videos festgehalten.

Gesicht ohne Züge

Die Da Bais mit ihrer vollständigen Gesichts- und Körperverhüllung sind eben auch zum Gesicht des neuen totalitären Chinas geworden: gesichtslose Ordnungshüter, die wie Roboter Anordnungen ausführen, auch wenn sie noch so sinnlos sein mögen.

Seit über einer Woche spielt sich in der 26-Millionen-Metropole ein Drama ab. Nachdem sich vor etwa zwei Wochen die Omikron-Fälle gehäuft hatten, griff die Stadtregierung zu der "bewährten" Strategie: Lockdowns und Tests. Zunächst sollte der Ostteil der Stadt, Pudong, für vier Tage stillstehen, in denen alle Bewohner mindestens zweimal auf das Virus getestet werden. Ab vergangenen Montag wäre dann der Westteil der Stadt, Puxi, an der Reihe gewesen. Das funktionierte aber nicht nach Plan. Immer mehr Menschen werden positiv getestet, aus diesem Grund wurde der strikte Lockdown nun in der ganzen Stadt und zudem auf eine unbestimmte Zeit verlängert. Viele rechnen damit, dass sich bis Mai daran nichts ändert – und hoffen, sich bis dahin nicht zu infizieren.

Stellenweise werden aber, wie auch die Proteste zeugen, schon jetzt die Lebensmittel knapp. Lieferdienste sind zwar offiziell in Betrieb, aber ständig ausgebucht. Gemüse und Fleisch werden an die Haushalte in Plastiksäcken verteilt. Das aber funktioniert auch nicht überall gleich gut. Um die Lebensmittelversorgung zu organisieren, wohl aber auch, um spontane Proteste zu unterdrücken, hat die Zentralregierung mittlerweile mehrere Tausend Soldaten der Volksbefreiungsarmee nach Schanghai geschickt.

Ausgangssperren allerorten

Als wäre die Sorge, auf unbestimmte Zeit in ihrer Wohnung eingesperrt zu sein und nicht genug Nahrungsmittel zu bekommen, nicht schon genug, beschäftigt viele vor allem die Angst, in ein Quarantänelager gebracht zu werden. Wer positiv auf das Virus getestet wird, muss sich bereithalten, um in den nächsten Stunden abtransportiert zu werden. Ob man Symptome hat oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Jeder der derzeit rund 20.000 Positiv-Fälle pro Tag wird in ein sogenanntes Fangcang-Krankenhaus gebracht, wie die Behausungen heißen.

Dieses besteht meist aus einer Halle mit tausenden aneinandergereihter Betten. Das Licht brennt dort die ganze Nacht lang, die Geräuschkulisse ist enorm. Die Toiletten sind verdreckt, Duschen gibt es keine, und auch an Privatsphäre ist dort nicht zu denken. Die einzige Möglichkeit, aus der Einrichtung irgendwann wieder herauszukommen: zwei aufeinanderfolgende Negativ-Tests innerhalb von vier Tagen. Da Kinder und Eltern voneinander getrennt werden, wenn sie unterschiedliche Testergebnisse aufweisen, versuchen viele Mütter und Väter, stets mit Nasenschleim ihrer Kinder in Kontakt zu bleiben.

Unterdessen weiten sich die Ausgangssperren noch weiter aus. Seit Sonntagmittag ist auch Taicang in der Nachbarprovinz Jiangsu betroffen. Dort haben sich zahlreiche europäische Unternehmen angesiedelt. Zudem kursieren Gerüchte, dass auch in der Hauptstadt Peking und im südchinesischen Guangzhou bald rigide Ausgangssperren verhängt werden. Auch dort sind Soldaten der Volksbefreiungsarmee aufgetaucht, gesichtslos und in weißen Schutzanzügen natürlich. (Philipp Mattheis, 12.4.2022)