Wann das Rad als Transporttechnologie entwickelt wurde, lässt sich aufgrund bisheriger Funde nicht eindeutig feststellen. Lange Zeit hielt man die Sumerer, die ab dem 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung im Süden Mesopotamiens siedelten, für die Erfinder des Wagens. Mittlerweile aber häufen sich die Indizien, dass Räder auf Achsen schon deutlich früher in anderen Regionen eingesetzt wurden.

Modelle und echte Räder

Hinweise darauf, dass bereits den Menschen der Jungsteinzeit das Rad – zumindest in Miniaturform – bekannt war, lieferten kleine Räder aus Ton, die nördlich des Schwarzen Meeres vor über 6.000 Jahren hergestellt wurden. Regelrechte Wagenmodelle kennt man aus der Zeit ab Mitte des 4. Jahrtausends aus verschiedenen Regionen Europas.

Dass damals tatsächlich auch Wagen gleichsam in "Lebensgröße" in Verwendung waren, darauf lassen charakteristische Spuren schließen, die im heutigen Norddeutschland entdeckt wurden. Um etwa 3400 vor unserer Zeitrechnung (v. u. Z.) dürften die parallelen Rinnen mit vertrauten Proportionen entstanden sein, ergab die Datierung mithilfe der Radiokarbonmethode vor einigen Jahren.

Blick von Südwesten auf das Langbett LA 3. Hier wurden auch die Spurrinnen gefunden. Das Großsteingrab besteht aus einer Ansammlung mehrerer Dolmen und Einzelgräber (im Vordergrund).
Foto: CAU/Dieter Stoltenberg

Riesiger Megalith-Friedhof

Damit könnten sie der älteste Beleg für den Einsatz des Rades zu Transportzwecken sein, wie Doris Mischka von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) schreibt. Die Archäologin hat die wissenschaftliche Dokumentation dieses spannenden Fundes in einer aktuellen Publikation veröffentlicht. Die feinchronologische Studie widmet sich der gesamten Besiedelungsgeschichte der Ausgrabungsregion.

Der Fundort der Zeugnisse früher Mobilität liegt nahe Flintbek bei Kiel, einer Gegend, die auch einen der größten bekannten Megalith-Friedhöfe Europas beherbergt. Die potenziellen Wagenspuren wurden bereits 1989 auf einem Gräberfeld freigelegt, auf dem sich dutzende Grabmonumente aus der Jungsteinzeit und Bronzezeit sichelförmig aneinanderreihen. Archäologinnen und Archäologen fanden dort bei Ausgrabungen sieben steinzeitliche Großsteingräber, sogenannte Langbetten, sowie 14 Grabhügel.

Rituelles Zentrum

Neuere Radiokohlenstoffdatierungen verriet den Forschenden erst Jahre später, dass in dem als Flintbeker Sichel bezeichneten Gebiet die ersten Bestattungen bereits vor etwa 5.800 Jahren stattgefunden haben. Zu Beginn errichteten die Menschen dieser Kultur offenbar zunächst die Langbetten, die sie durch sukzessive Anbauten stetig vergrößerten. Während der frühen Phase entstanden auch Grabhügel mit kleinen Steinkammern, sogenannte Dolmen.

Dunkle Verfärbungen im Boden weisen auf eine frühe Verwendung des Wagens im heutigen Norddeutschland hin.
Foto: CAU/Dieter Stoltenberg

Rund 500 Jahre später begann sich die Gräberarchitektur allmählich zu verändern: Die Toten wurden zunehmend in Ganggräbern bestattet. Diese großen Steinkammern mit ebenfalls aus Stein gebauten Zugängen dienten ab dieser Zeit für viele Jahrhunderte als kollektive Bestattungsorte. Mischka nimmt an, dass hier Familien aus verschiedenen Gebieten jeweils ihren eigenen Begräbnisplatz hatten. Die Flintbeker Sichel könnte daher ein rituelles Zentrum für eine ganze Region gewesen sein.

Aufregende parallele Linien

Neben den zahlreichen Gräbern sorgte die Datierung zweier zunächst vergleichsweise unscheinbarer brauner Linien im Boden bei den Archäologinnen und Archäologen für Aufregung: 3.420 bis 3.385 vor unserer Zeitrechnung. Das Linienpaar ist rund 20 Meter lang und verbindet einen Grabhügel mit einem Dolmen.

Die Forschenden stellten fest, dass die Breite der Verfärbungen im Boden jeweils ziemlich genau mit der Breite von bereits bekannten etwas jüngeren Holzrädern übereinstimmt. Darüber hinaus entspricht der Abstand der beiden Rillen exakt der Breite bisher entdeckter jungsteinzeitlicher Wagenachsen. Daraus rekonstruierten sie, dass jedes Rad fünf bis sechs Zentimeter breit war und der Radstand des Wagens 1,1 bis 1,2 Meter betragen hatte. Die Spurbreite betrug etwa 60 Zentimeter.

Mischka und ihr Team sehen in dem Fund einen eindeutigen Beweis, dass beim Bau der Grabanlagen in der Flintbeker Sichel vor 5.400 Jahren die damals neue Rädertechnologie zum Einsatz kam – eine Innovation, die in vielen anderen Regionen Europas und Südwestasiens erst im späten vierten Jahrtausend v. u. Z. anzutreffen ist. Der Fund könnte auch bedeuten, dass das Rad nicht, wie vielfach angenommen, im Nahen Osten erfunden wurde, meint Mischka. (tberg, red, 12.4.2022)