Mit Franz Vranitzky ungestört im Wiener Café Landtmann sprechen zu wollen ist keine gute Idee. Noch immer kennen und erkennen ihn viele Menschen, wollen mit ihm reden, ihn auf Veranstaltungen einladen. Vranitzky sagt, er wundere sich selbst, "dass man immer die Alten fragt". Das hat freilich Gründe: Der 84-Jährige verfolgt das Weltgeschehen immer noch genau. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine bereitet ihm ebenso Sorge wie die Möglichkeit, dass die EU in dieser heiklen Phase falsche Entscheidungen treffen könnte.

Bild nicht mehr verfügbar.

Vranitzky im Bruno-Kreisky-Forum für internationalen Dialog, dessen Gründungs- und Ehrenpräsident er ist: "Man wird wohl abwarten müssen, wie es nach Putin weitergehen wird."
Foto: Jeff Mangione / Kurier / picturedesk.com

STANDARD: Haben Sie den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine für möglich gehalten?

Vranitzky: Putin ist 22 Jahre im Amt, und daher ist es nicht verwunderlich, dass ihn die Welt in unterschiedlichen Phasen erlebt hat. Man darf nicht vergessen, dass zu Beginn die Hoffnung bestand, dass Russland im europäischen Kontext an einer vielversprechenden Neuordnung der Welt mitwirkt. Es ist zwar einfach zu behaupten, man hätte die Katastrophe schon früher erkennen können. Aber dass sie solche Ausmaße annimmt, die bis hin zu Kriegsverbrechen gehen, das hat wahrscheinlich kaum jemand angenommen. Jetzt fallen mehrere Hoffnungen in sich zusammen. Die Vorstellung von der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der energiepolitischen Zusammenarbeit, ja überhaupt von der zukunftsorientierten Koexistenz der EU mit dem europäischen Partner Russland – all das ist in unendliche Ferne gerückt. Man wird wohl abwarten müssen, wie es nach Putin weitergehen wird.

STANDARD: Mit Putin wird es aus Ihrer Sicht nie wieder Kooperation geben?

Vranitzky: Das halte ich für nicht vorstellbar. Denn die Schuld, die Putin mittlerweile auf sich geladen hat, ist nicht mehr tilgbar. Es ist nicht vorstellbar, dass man sich mit jemandem an einen Tisch setzt und verhandelt, der eigentlich für ein Tribunal kandidiert.

STANDARD: Bundeskanzler Karl Nehammer hat genau das versucht – mit Putin verhandeln. Was sagen Sie zu seiner Reise nach Moskau?

Vranitzky: Von Versuchen, die man unternimmt, sind halt nicht immer alle ein Erfolg. Abgesehen von dem heimischen Pro/Contra-Geplänkel, das als vorübergehend abzuhaken ist, steht im Mittelpunkt, ob man uns international einen ins Gewicht fallenden Stellenwert zuschreibt oder nicht.

STANDARD: Offensichtlich tut man das nicht ...

Vranitzky: Bisher gibt es keine Anzeichen dafür.

STANDARD: Schützt die Neutralität Österreich vor Aggressoren wie Putin?

Vranitzky: Wir haben ein Verfassungsgesetz. Die österreichische Bevölkerung hat in großer Mehrheit eine positive Wertschätzung für die Neutralität. Zeitgeschichtlich ist die Neutralität auf einer Stufe mit unserem Staatsvertrag 1955, der uns unsere Freiheit gebracht hat. Daher muss man die Frage stellen: Welche Möglichkeiten müssen wir nutzen, um auf dem Boden dieser Neutralität unsere Sicherheit bestmöglich zu organisieren? Zunächst einmal mit unserer eigenen Politik und zweitens im Rahmen der Europäischen Union. Wir haben bereits 1992 ein Aide-Mémoire verabschiedet, das unsere nationale Sicherheit untrennbar mit der Sicherheit in Europa verbunden sieht. 1997 haben wir in einem Verfassungsgesetz festgelegt, dass die Möglichkeit besteht, an EU-geführten Einsätzen teilzunehmen. Das ist also nichts Neues. Die Beistandsidee besagt, im Einzelfall helfen wir mit, wie im Gegenzug uns geholfen wird. Die Neutralität macht uns jedenfalls nicht wehrlos.

STANDARD: Wie weit geht das? Die EU hat ja auch die Bildung einer schnellen Eingreiftruppe beschlossen. Kann Österreich daran teilnehmen?

Vranitzky: Diese Frage führt uns zu unserem Bundesheer. Ist unser Heer in der Lage und vorbereitet darauf, eine solche Beistandsverpflichtung auch wirklich zu erfüllen? Es ist richtig, wenn die Bundesregierung unser Heer dahin entwickeln will, dass die Frage der Beistandspflicht mit Ja beantwortet werden kann.

STANDARD: Es heißt, Putin habe die EU geeint. Sehen Sie das auch so?

Vranitzky: Das überzeugt mich nicht. Man müsste diese Einigkeit auch ohne Putin haben. Bei aller Freundschaft zu den USA, zu der ich mich bekenne, gibt es immer auch unterschiedliche Interessen. Die EU sollte immer dann am stärksten sein, wenn sie von sich aus, aus eigener Kraft, politische Statur zeigt.

STANDARD: Zum Beispiel?

Vranitzky: Wirtschaftspolitisch gesehen, heißt es ja immer, ist die Europäische Union ein Riese – und politisch ein Zwerg. Oder anders gesagt, sie wird im Kampf der großen Blöcke USA, China, Russland nicht als eine eigenständige Kraft wahrgenommen. Putin hat ja gesagt, mit der EU redet er gar nicht. Europa darf sich nicht zwischen den großen Blöcken zur bescheidenen Nachzüglernummer degradieren lassen.

STANDARD: Wie kann die EU das erreichen?

Vranitzky: In erster Linie durch überzeugende Führungskräfte. Politische Führungskräfte, die nicht immer ihr innenpolitisches Heil darin suchen, gegen die Europäische Union zu argumentieren und für nationalistische Prioritäten einzutreten. Brüssel wird ja oft als eine Art Feindbild dargestellt, die Brüsseler Bürokratie als etwas Hinderliches – der eigenen Bevölkerung gegenüber.

STANDARD: Reden wir über Erdgas. Die EU will die Gasimporte aus Russland um zwei Drittel reduzieren. Österreich ist besonders stark von russischem Gas abhängig. Wie kam das?

Vranitzky: Ich weiß, dass die damalige Führung der OMV überzeugt war, dass die russische Karte für sie und für ihre Zukunft die richtige ist.

STANDARD: Würden Sie zustimmen, dass das eine kolossale Fehlentscheidung war?

Vranitzky: Wir landen damit wieder bei der Frage: Hätte man nicht vorher wissen müssen, wie Putin ist, weil die Annexion der Krim ja nicht gerade vertrauenerweckend war. Um es milde auszudrücken. Dieses Vorher-wissen-Müssen hilft nur heute nicht. Jetzt lese ich über den Plan der EU, dass es technisch möglich ist, rasch aus russischem Gas auszusteigen. Das, so heißt es, wird aber insgesamt als mutig und sportlich eingeschätzt. Mut ist immer gut, aber ob man in einer so wichtigen Angelegenheit sportlich sein möchte, ist eine andere Frage.

STANDARD: Sie sind gegen ein Totalembargo für russisches Gas?

Vranitzky: Die Wirtschaftsforscher und die Industriellen haben ja recht, wenn sie sagen, ein totales Embargo für russisches Gas und Öl würde eine nachhaltige Schädigung der Produktionskraft unserer Betriebe nach sich ziehen. Und das hat wiederum Rückwirkungen auf die Gesamtwirtschaft, die Beschäftigung, die Budgetentwicklung, auf die Kaufkraft der Bevölkerung. Die Preise sind sowieso schon irrwitzig hoch. Dazu kommt: Wenn man der Ukraine weiter helfen will, dann braucht man als Volkswirtschaft Kraft. Sonst wird auch das nicht mehr möglich sein.

STANDARD: Das bedeutet aber auch, dass wir mit unseren Devisen letztlich den russischen Angriffskrieg finanzieren.

Vranitzky: Es ist ja nicht so, dass wir mit den Händen im Schoß dasitzen. Wir beteiligen uns an Sanktionen, die im Endeffekt auch für uns erhebliche Beeinträchtigungen bedeuten.

STANDARD: Hat sich Österreich zu sehr an Putin angebiedert?

Vranitzky: Österreich als solches nicht. Einzelne vielleicht schon, wenn auch in guter Absicht. Lange Zeit vor Putin, in den Jahren des Kalten Kriegs, zählte Österreich nach Finnland zu den europäischen Staaten mit ausgeprägten Wirtschaftsbeziehungen zu den osteuropäischen Ländern, natürlich auch Russland. Unsere Rohstoffknappheit war ein wichtiger Beweggrund dafür. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nützten die österreichischen Firmen die schon vorher aufgebauten Kontakte. Andere Unternehmen aus dem Handels-, dem Industrie-, dem Banken- und dem Versicherungswesen kamen dazu. Selbstverständlich trifft das alles auch auf zahlreiche Unternehmen in Europa und den USA zu. Diese Erfolgsstory verdeckte Signale, die dann in den Zehnerjahren offenkundig wurden. Ich bin übrigens gespannt, wie es mit China weitergeht. So manche österreichischen Firmen haben sich südöstlich von Russland substanziell engagiert. Die Frage "Wie konntet ihr euch so von China abhängig machen?" ertönt derzeit noch leise. (Petra Stuiber, 14.4.2022)