Genf, Frühling 1942. Im Garten der "Pouponnière", des Mutter-Kind-Heims, das ein Verein der Kinderfreunde betreibt, zwitschern die Vögel, Sträucher wiegen sich im Aprilwind. In der Ferne blinken die Berghöhen des Jura. Das Frühlingsidyll wird jäh unterbrochen, weil die kleine Nardja aus dem Haus läuft und sich laut schreiend bemerkbar macht.

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Auszehrender Perfektionismus: Robert Musil (1880–1942).
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Dem Autor ist das ausnahmsweise gleichgültig, denn sein Schreibtisch ist mit weißen Leintüchern verhangen. Seit Tagen hat Robert Musil keine Zeile zu Papier gebracht. Nur wenn er im oberen Geschoß "galoppierende" Schritte der Kinder vernimmt, wird der 61-Jährige nervös, ansonsten sind Gattin Martha und er friedfertige Mitbewohner, die Spaziergänge unternehmen, lesen und über französische Übersetzungen debattieren.

Produktivitätshemmung

Abwechslung vermittelt dem Autor in Zeiten der Produktivitätshemmung die Beobachtung der Hauskatze samt vierpfötigen Verehrern. Schon in Zürich hat er zwei Jahre zuvor das Liebesleben der Katzen mit dem ihm eigenen naturwissenschaftlichen Röntgenblick eines "monsieur le vivisecteur" durchleuchtet.

Nach einem von Fritz und Marian Wotruba initiierten Vortrag in Winterthur, wohin der Gymnasiallehrer Hunziker im Jänner 1940 den von ihm bewunderten Musil einlud, stieg sein Bekanntheitsgrad im Exil nur unbeträchtlich.

Gerne hätte der Autor seine Aphorismen publiziert, quälend lasteten die unfertigen Kapitel des unvollendeten Romans Der Mann ohne Eigenschaften, dessen erster Teil Anfang der 1930er-Jahre herausgekommen war, auf ihm. Bereits 1908 mit dem Törleß berühmt, hatte er Unmengen an Zeit in den Roman gesteckt, ein Nachlass zu Lebzeiten brachte ein wenig Geld eines Schweizer Verlags ein.

Von Spenden abhängig

In Genf, wohin das Ehepaar Musil zog, gab es Kontakt mit anderen Exilanten, darunter mit Staatsrechtslehrer Hans Kelsen und dessen Gattin Grete, die bald in die USA weiterreisen sollten. Eine von Kelsens Töchtern (Anna, die sich später Hannah nannte und nach Israel zog) war Sekretärin beim Völkerbund.

Dort bemühte sich die Bibliothekarin Marie Ginsberg mit dem "comité pour le placement des intellectuels réfugiés" um die Flüchtlinge, vermittelte Lesungen und Geldspenden. Dies berichtet Nellie Seidl, geborene Kreis, die Musils Scheu erwähnte, sich im Smalltalk betuchten Spendern anzunähern.

Rudolf Olden bemühte sich von London aus um eine Musil-Stiftung, die auch Thomas Mann befürwortete. Der reformierte Pfarrer Robert Lejeune und seine Künstlergattin Suzanne hatte die beiden Musils über den Bildhauer Wotruba kennengelernt, der 1939 in Zürich ausstellte. Der kunstaffine Pfarrer des Großmünsters in Zürich ist der gute Geist des Ehepaars. Seinetwegen beginnt sich der religiös eher indifferente Autor mit Laientheologie zu befassen.

Religionsfragen

Wer Musils Werk und Tagebücher durchforstet, findet neben Interesse an Verfassungs- und Strafrecht auch Aufzeichnungen über Religionsfragen. Der am 6. November 1880 geborene Autor war in St. Ruprecht bei Klagenfurt römisch-katholisch getauft worden, aber am 15. April 1911 heiratete er Martha, verwitwete Marcovaldi und geborene Heimann, nach evangelischem Ritus.

Die Musils zählten daher im Exil zu den evangelischen Flüchtlingen. Mangels Einkommen aus dem literarischen Werk war das Ehepaar von Spenden und Gelegenheitseinkünften abhängig, die unregelmäßig flossen.

Pro Woche musste Musil rund zwanzig Briefe schreiben, meist Dankschreiben, Bittbriefe oder andere "systemerhaltende" Korrespondenzen, die der Autor mit Akribie, aber Widerwillen erledigte. Auch beim Briefeschreiben pflegte er einen auszehrenden Perfektionismus. Er fühlte sich in eine Wüste versetzt, obwohl doch alles vor der Haustür grünte und die Natur zu neuem Frühling erwacht war.

Einsamer Abschied

Eines Tages ist es dann so weit. Musil liegt leblos im Bad. Beim Ankleiden hat ihn der Schlag gerührt. Zuvor hatte das Ehepaar einen ruhigen Vormittag im Garten verbracht. Martha kann es nicht glauben, ausgerechnet am Hochzeitstag, dem 15. April 1942, stirbt ihr Gatte lautlos. Der Gesichtsausdruck des Verblichenen wirkte nicht leidend, sondern etwas spöttisch.

Mehr als drei Jahrzehnte liegt die Eheschließung zurück, sie ist in den Biografien unscharf konturiert, man traf sich in der heute noch bestehenden evangelischen Kapelle in der Schützengasse 13. Aber wer sollte als Trauzeuge fungieren? Der aus Siebenbürgen (Botsch, heute Rumänien) gebürtige Pfarrer weiß Rat: Kirchendiener Franz Bruhns und sein Sohn Otto übernehmen diesen Part.

Letzterer war ein interessanter Mann. Otto Antonius stand damals noch eine große Karriere als Zoologe bevor, er habilitierte sich an zwei Hochschulen und leitete ab 1924 für zwei Jahrzehnte den Tiergarten Schönbrunn. Angesichts der ab 1944 intensivierten Bombenangriffe und der Nähe der Maria-Theresien-Kaserne wurden Schutz und Rettung der Tiere zu einem Thema, abgesehen von der stark sinkenden Besucherzahl.

Musils Leichnam wurde in Genf kremiert, Pfarrer Lejeune sprach Abschiedsworte und erinnerte an Musils Nekrolog über Rilke. Als dieser starb, war dies auch kaum ein Thema. Noch einsamer aber war der Abschied von Musil, den kein Nachruf in den NS-gleichgeschalteten Blättern ehrte.

Nur in Emigrantenzeitungen wie der kommunistischen Alemania libre in Mexiko schrieb Egon Erwin Kisch über Musils Werk und seine Bemühungen um den Schutzverband deutscher Schriftsteller. Noch tobte der Weltkrieg. Aus Wien kam niemand zum Begräbnis angereist. (Gerhard Strejcek, ALBUM, 17.4.2022)