6. April: Diese beiden ukrainischen Buben sind mit ihren Müttern geflüchtet und in Eisenstadt gelandet.
Foto: Reiner Riedler

Richard Wall

Nicht das Wort ist’s, was man sucht

I

Lüge und Vertrauensbruch, wenn auch nur
beobachtet und indirekt empfunden,
genügen, um im ganzen Körper
ein noch nie dagewesenes Gefühl zu erwecken.
Immer wieder, dieses Mal ganz stark
und bis in die Träume hinein,
erkennst du, fühlst du das Übel,
dort – in der Ferne – so nah.
Körper leblos, verstümmelt, zerfetzt –
nichts Neues, wie immer,
wenn an Masken abprallen Bitte und Frage
und von allen guten Geistern verlassen
die Waffen sprechen, Sprache ohne Worte.
Wo sind nun Wege, auf denen, vor einem Ziel,
das es, wie es scheint, noch nicht gibt,
das Herz sich der Schläge erwehren kann,
sich das Schlagen erhält?

II

7. April: Die "Sport und Fun Halle" in der Wiener Engerthstraße fungiert als Ankunftszentrum für Geflüchtete aus der Ukraine.
Foto: Reiner Riedler

Ein wenig, nein lange, war Friede hier,
fast nie im Süden, im Südosten, das haben wir
aus der Ferne zur Kenntnis genommen
durch all die Jahre wie den Wetterbericht,
gefiltert durch Ideologien und Medien.
Nun reckt, ganz in der Nähe,
in einer Engführung von Geschichte,
sinnlos ein Schrecken sein Haupt, ihm eingeschnitten
die Grimasse des Gräuels, des Gemetzels,
weil ein Sturkopf, humorlos, dem Wahnsinn verfallen,
wie ein kleines Kind, dem ein anderes ein Teil
von einem Puzzle vorenthält, Taten befiehlt,
die nichts bringen außer hunderttausendfach
Not und Tod und Zerstörung von Hab und Gut.

III

Ich zähle die Tage seit Kriegsbeginn.
Es gibt kein Austreten aus der Geschichte,
kein Davonschleichen. Eine neue Zeitrechnung
hat begonnen. An Gräben, die man begonnen hat,
einzuebnen, wird wieder gegraben.
Diesen Tyrannen zu beseitigen
obliegt niemand Geringerem als jenem Volk,
das Poetinnen wie Marina Zwetajewa, Anna Achmatova,
Künstler wie Alexander Rodtschenko,
Architekten wie Konstantin Melnikov hervorgebracht hat,
dem so duldsamen, so oft betrogenen
russischen Volk, dem meine Liebe gilt.
Дружба / Druschba!

6. April: Familie Havrylets (vorne rechts): Mariia (Mutter) mit Sohn Mark (7) und dahinter Tochter Yeva (12). Dahinter: Familie Korobka: Viktoriia (Mutter) mit Sohn Kyrylo (17). Links daneben:
Familie Liesovikova: Natalia (Mutter) mit Tochter Mariia (7). Links unten: links unten
Familie Smid-Steirer: Julian (Papa), Julia (Mutter), Paul (12), Johanna (8) und Michael (3).
Foto: Reiner Riedler

Natalka Bilozerkiwez

Hotel Central

In einer Stadt, wo in riskanter Zeit
Das Schicksal uns seine Allüren zeigt
Wo abends Jazzmusik man hört aus jeder Bar
Am Morgen aber Glockenläuten, hell und klar
Dort blühen Lilien am Abwasserkanal;
Dort trinkt man Kaffee, Bier sodann in dem Lokal
Und wie die Schwalben machen sich auf ihren süßen Weg
Die Fahrräder der Schulmädchen, gehätschelt und gepflegt

Die Rucksäcke sind federleicht, die Marke stimmt
Die Beine lang, die Hosen eng, die Hüften schmal
Vergiss es nicht, so waren wir ja auch einmal
Es ist schon zwanzig, dreißig Jahre her, bestimmt,
Lass deinen Kummer fahren, deinen Schmerz, es ist egal,
Es gibt in jeder Stadt so ein Hotel Central
Für alle, die wie du für jedermann ein Niemand sind

4. April: Svitlana, Daniil, Jaroslaw und Svitlana bei Gastgeberin und Gastgeber, Hans und Birgit, in Eisenstadt. Sie kommen aus einer sehr umkämpften südlichen Gegend der Ukraine.
Foto: Reiner Riedler

Dort breitest du bescheiden deine Habe aus
Ziehst unter den Lidern die Kontaktlinsen heraus
Wäschst deinen Leib, dein Fleisch, holst deinen Drink
Schaltest mit Knopfdruck ein Privatfernsehen an –
Und was du willst, und wie du willst, im Handumdrehen
Nimmst du es dir, glotzt es nicht lange an
Und nächtliche Musik dröhnt überall
In den Gemächern des Hotels Central

Um drei Uhr nachts kommt aus dem Himmelssaal
Hieronymus Bosch so wie der Herrgott ins Central –
Mit Fliegen, die das Blut aus allen Gliedern saugen
Insekten, die zum Klarinettespielen taugen
Mit Fröschen und mit Schnecken, um es dann wieder
Mit Fischen zu versuchen; und all deine Liebe
Ist wie eine Portion Laich in einem Höllenkuchen

8. April: Nikola und Michail mit ihrer Mutter Olena aus Kramatorsk. Sie sitzen auf dem Sofa vor Bildern ihrer Gastgeberfamilie Margit und Konstantin in deren Haus in Nickelsdorf, im Burgenland. Margit und Konstantin haben selbst noch 2 Kinder: Paul, 6, und Emil, 1.
Foto: Reiner Riedler

Wie Spuren eines Kampfes an der Wand verschmiert
Den hat ein Sklave schwach und ohne Glück geführt
Ein Kampf des Menschen mit dem Geist, der straft,
Der deinen Leib formt, knetet, wie aus Lehm gemacht,
Um ihn dann in ein Fass mit Exkrementen voll zu stecken
An zwei Fingern herauszuziehen, kräftig zu schütteln,
Bevor er sich umsieht und umhört an allen Ecken

Wie der erste Blick voll von Mitgefühl
Die erste Berührung, die zaghaft Liebe bekennt
Wie die Sonne, die auf dünne Kattunfalten brennt
Ist das Hotel Central, das den neuen Tag empfängt

Und ein jeder Tag – vielleicht die letzte Chance
Eine jede Nacht kann das letzte Mal sein
Über Lilienkanälen wie in Trance
Die Fahrräder der Schulmädchen voll Eleganz

Übersetzung von Alois Woldan

7. April: Im Notquartier im Wiener Ernst-Happel-Stadion gibt es Hochbetten.
Foto: Reiner Riedler

Martin Klaus Menzinger

Wenn die Augen der Kriegsblinden
keine Farben mehr sehen

Wenn die Augen der Kriegsblinden
keine Farben mehr sehen und
die Nebelkrähen über Fingerspitzen gehen.
Wenn meine Augenwimpern in der Luft lichterloh
verbrennen und kein einziger Blick mehr tröstet.
Wenn die Rauchschwalben auf der weißen Wand
ihr eigenes Blut trinken und die Schläfe
auf meiner Stirnwand keinen Puls mehr schlägt
und trägt. Wenn die Stimmen in deinem Kopf
meinen Schädel zu Glas zersplittern
und die Schmetterlinge mit verbrannten Flügeln
zu Staub zerfallen. Wenn im Frühling
keine Kirschbäume mehr blühen
und der Winter mit seinem ewigen Schnee
nach gelbfiebriger Galle schmeckt.

7. April: Die Kinder versuchen, das Erlebte zu verarbeiten.
Foto: Reiner Riedler

Wenn dein Schmerz so wie Stecknadeln
auf meiner Zunge laut schreit und
das Verstummen nur mehr eine Frage der Zeit ist.
Wenn du meine Tränen schluckst und die Messer
deinen Atem zerschneiden. Wenn dein Lippenflor
Trauer trägt und eine weiße Rose erblüht.
Wenn die Sehnsucht keinen Namen mehr hat
und die Hoffnung kein Gebet.
Wenn die Ohnmacht zur tiefen Nacht
als Gespenst in das eigene Grab fällt
und kein Mensch zu deiner Beerdigung kommt.
Wenn es keine Bestatter mehr gibt. Und
keine Särge. Wenn die Kinder keine Mütter
mehr haben. Und keine Väter. Keine Träume.
Kein Morgen. Kein Gestern. Kein Kuscheltier.
Nichts mehr als Angst. Und wenn die Angst
so wie ein wildes Tier deine Seele auffrisst,
dann ist Krieg!

(ALBUM, 16.4.2022)