Viele Produkte im Supermarkt müssten teurer sein, um die Kosten, die sie verursachen, miteinzubeziehen, heißt es von True Price. Könnte sich dann auch noch jeder alles leisten?

Foto: Daniel LEAL / AFP

Stellen Sie sich vor, Sie betreten einen Supermarkt, in dem jedes Produkt zwei Preisschilder hat – eines zeigt den "normalen" und eines den "wahren" Preis. Bananen kosten einmal 1,99 Euro pro Kilo und auf dem zweiten Schild 3,99 Euro. Ein Kilogramm Kaffeebohnen kostet 8,99 und 12,99 Euro, ein Liter Milch 1,15 und 2,50 Euro. Während der Unterschied zwischen dem normalen und dem wahren Preis bei manchen Produkten klein ist, klafft er bei anderen weit auseinander. An der Kassa zahlen Sie dann automatisch den höheren, "wahren" Preis. Würden Sie in einem solchen Supermarkt einkaufen?

Tatsächlich gibt es einen solchen Supermarkt mit zwei Preisschildern bereits. Er steht im Herzen Amsterdams, heißt "De Aanzet" und bezeichnet sich als "erster Supermarkt mit wahren Preisen". Für das Konzept arbeitete der Supermarkt mit der niederländischen Initiative True Price zusammen. Die Idee: jene Kosten, die ein Produkt bei der Herstellung, dem Transport, dem Konsum oder der Entsorgung für Mensch und Natur verursacht, in den Preis des Produktes zu integrieren.

Wie viel müsste ein Liter Milch kosten, wenn alle Kosten für die Umwelt und die Tiere miteinberechnet sind?
Illustration: Fatih Aydogdu

"Externalitäten" sagen Ökonominnen und Ökonomen zu solchen Kosten, die nicht im Marktpreis des Produktes enthalten sind: Darunter fallen etwa CO2-Emissionen, die bei der Produktion entstehen, Schäden an Böden durch eine intensive Landwirtschaft oder die Ausbeutung von Arbeitern. Je größer der Unterschied zwischen dem normalen und dem wahren Preis eines Produktes ist, desto weniger nachhaltig ist es.

Niedriges Gehalt

"Wir haben heute ein Wirtschaftssystem, das die Arbeit, die viele Menschen weltweit in die Herstellung eines Produktes stecken, nicht ausreichend entlohnt", sagt Michel Scholte, einer der Gründer von True Price, im STANDARD-Gespräch. Das führe dazu, dass viele Menschen in Armut leben und vom System ausgebeutet werden.

2012 schloss sich Scholte, der Soziologie studierte, mit Adrian de Groot Ruiz zusammen, einem Ökonomen, mit dem er zuvor in einem Thinktank zusammenarbeitete. Gemeinsam begannen sie, den wahren Preis vieler Produkte zu errechnen, mit dem Ziel, Konsumenten und Unternehmen mehr Informationen über den Schaden bestimmter Produkte zu vermitteln und so vielleicht die Art und Weise, wie diese hergestellt werden, zu verändern.

Informationen sammeln

Aber wie errechnet man den "wahren" Preis eines Produktes? Es brauche vor allem einmal viele Informationen, sagt Scholte: zur Herkunft, den Menschen, die an der Herstellung beteiligt sind, und wie diese davon betroffen sind, den Rohstoffen, die benötigt werden, und dem Transport.

Glücklicherweise seien diese Informationen mittels neuer Satellitendaten, Rechercheberichten von NGOs, sozialer Medien und internationaler Kontrollen immer leichter zu bekommen, sagt Scholte. Entstehen etwa beim Anbau und Transport von Bananen von Kolumbien bis nach Europa eine bestimmte Menge an CO2-Emissionen, dann setze sich ein Teil der wahren Kosten der Bananen im Supermarkt daraus zusammen, wie viel es kostet, die Emissionen am Produktionsort zu senken oder sie an anderer Stelle etwa durch das Pflanzen von Bäumen auszugleichen.

Eine völlig objektive Angelegenheit ist das allerdings nicht. Denn je nachdem, wie viel Wert wir etwa der Natur oder auch zukünftigen Generationen geben, unterscheidet sich auch der Preis, den der Ausstoß von CO2-Emissionen haben soll – eine Diskussion, die auch bei der Frage nach der Höhe des CO2-Preises eine Rolle spielt.

Preis der Ausbeutung

Noch komplizierter wird es, auch den sozialen Folgen von Produkten einen Preis zu geben. So ermittelten Scholte und de Groot Ruiz beispielsweise den wahren Preis einer importierten Rose aus Kenia. Von den rund 70 Cent, die die Rose normal kostet, gehen lediglich zwei Cent an die kenianischen Arbeiter, acht Cent an den dortigen Züchter, fünf Prozent an das Transportunternehmen, 17 Cent an den Großhandel und 38 Cent an den Floristen oder Supermarkt. Um den Arbeitern ein faires Einkommen zu geben und die Umweltschäden auszugleichen, müsste die Rose laut True Price 95 Cent kosten.

Stammen Rohstoffe wie etwa Kakao zudem aus Kinderarbeit, muss der wahre Preis laut True Price noch höher sein. "Wir rechnen dann etwa die Kosten ein, die entstehen, weil ein Kind weniger Schulbildung bekommt, möglicherweise körperlichen und geistigen Schäden davonträgt plus das Geld, das es braucht, um die Familien durch den Wegfall an Einkommen durch Kinderarbeit zu kompensieren", sagt Scholte.

Am Ende können sich Supermärkte und andere Geschäfte dazu entscheiden, den wahren Preis ihrer Produkte anzubieten. "Der ist nicht unbedingt zwei bis dreimal höher", sagt Scholte, sondern richte sich nach dem Schaden, den das Produkt verursacht. Während der wahre Preis von Fleisch und Milch zwar tatsächlich häufig das Doppelte des Normalpreises sei, würden Tee und viele pflanzliche Produkte meist nur um einige Cent teurer werden.

Keine hundertprozentige Sicherheit

Mittlerweile böten neben dem Supermarkt "De Aanzet" auch ein Schokoladenunternehmen, zwei Cafés und ein Restaurant in den Niederlanden ihre Produkte zum wahren Preis an, sagt Scholte. Entschließt sich ein Kunde oder eine Kundin, den wahren Preis eines Lebensmittels, eines Kleidungsstücks oder eines anderen Produktes zu zahlen, verpflichtet sich das Unternehmen, das zusätzliche Geld in die Reduktion des Schadens durch das Produkt zu investieren, etwa CO2 einzusparen oder durch Maßnahmen direkt vor Ort Arbeitern oder der Umwelt zu helfen. Zudem sollten die Unternehmen die umgesetzten Maßnahmen öffentlich und transparent machen und deren Einhaltung von externen Organisationen kontrollieren lassen, sagt Scholte. "Eine hundertprozentige Sicherheit, dass das Geld dort landet, wo es soll, gibt es aber nicht."

Ohnehin gehe es der Initiative zuerst einmal darum, überhaupt ein Verständnis für die wahren Preise von Produkten zu vermitteln – nicht nur an Konsumenten, sondern auch an Unternehmen, Banken und Investoren. "Hätten wir überall wahre Preise, müssten viele Fluglinien wohl in Konkurs gehen. Wir hätten weniger Autos und würden mit fossilen Energien und anderen Rohstoffen viel sparsamer umgehen", sagt Scholte. Nur würden den versteckten Preis bisher noch meist andere zahlen. Am Ende sei der wahre Preis nicht teurer, sondern billiger für uns Menschen und den Planeten, sagt Scholte. "So sauber unsere Supermärkte momentan auch aussehen: Noch sind sie voller Lügen." (Jakob Pallinger, 16.4.2022)