Marine Le Pen verspricht, französische Eigeninteressen zu verteidigen – und hat damit eine reelle Chance auf den Wahlsieg.

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Wenn die Umfragen stimmen, dann kann sich fast die Hälfte aller Französinnen und Franzosen vorstellen, nach der Stichwahl für die Präsidentenwahl am kommenden Wochenende unter einer Präsidentin Marine Le Pen zu leben. Anders als vor fünf Jahren sehen viele in der Chefin des Rassemblement National (RN) keine Rechtsextremistin mehr, sie fürchten diesmal keinen Austritt aus Euro und EU und schätzen ihren Einsatz für die wirtschaftlichen Nöte der kleinen Leute.

Aber eines nehmen all diese Wähler dabei in Kauf – oder viele sehnen es sogar herbei: dass Frankreich seinen traditionellen proeuropäischen Kurs beendet und in Zukunft nur noch enge nationale Interessen verfolgt.

Le Pen kehrt damit einerseits zum Modell des "Europas der Vaterländer" des Gründers der Fünften Republik, Charles de Gaulle, zurück, anderseits springt sie auf einen politischen Zug auf, der derzeit durch ganz Europa rast.

Die Karte sticht

In Ungarn hat Viktor Orbán mit seiner Beschwörung des Ungartums und der Verteufelung der EU gerade eine Zweidrittelmehrheit gewonnen, in Polen zeigen die rechte PiS-Regierung und die von ihr beherrschten Gerichte den europäischen Institutionen bei jeder Gelegenheit die lange Nase. Und auch Politikerinnen und Politiker der Mitte können oft nicht der Versuchung widerstehen, sich als Verteidiger der Eigeninteressen gegen den Brüsseler Moloch und böswillige Partnerstaaten aufzuspielen.

Kein Wunder: Bei der Wählerschaft sticht die nationale Karte fast immer. Die Mehrheit der Europäer ist zwar grundsätzlich proeuropäisch, aber noch stärker patriotisch oder gar nationalistisch eingestellt. Nur eine kleine Minderheit stellt Europa über das Heimatland.

Das merkt man auch in Österreich, wo einerseits die FPÖ mit Anti-EU-Slogans mindestens ein Fünftel der Wählerschaft an sich bindet, aber auch ÖVP und SPÖ Europaskepsis gerne bedienen – und auch die Grünen es tun, wenn es um ihre Herzensthemen wie die Atomkraft geht. Nur die Neos stehen konsequent zu Europa – und bleiben mit dieser Haltung an der Zehn-Prozent-Marke kleben.

Kleinstaaterei als Problem

In einer Zeit, in der kaum ein Problem existiert, das einzelne Staaten alleine bewältigen können, in der Europa um seine globale Bedeutung ringt und sich militärisch von Russland und wirtschaftlich von China bedroht fühlt, ist diese Kleinstaaterei ein Problem.

Egal ob Klimakrise, Pandemie, Turbulenzen in der Finanzwelt oder große Migrationsbewegungen: Wenn Fachleute nach konstruktiven Lösungen suchen, landen sie fast immer bei einer stärkeren europäischen Zusammenarbeit. Wenn Dinge nicht gut laufen, sind fehlende Koordination oder Konflikte auf der EU-Ebene meist ein Faktor. Und im Brexit-Staat Großbritannien bekommen Unternehmen genauso wie Bürgerinnen die Kosten des Alleingangs von Tag zu Tag stärker zu spüren.

Und dennoch bleibt der Brexit zumindest in England populär, muss die EU immer und überall um Zustimmung bangen, prägen nationale und nationalistische Reflexe die Politik in fast allen EU-Staaten. Globale Krisen verstärken diese Tendenz, warnt Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik: "Wenn die Welt da draußen gefährlich wird und die Verunsicherung wächst, dann sucht man einen Außenfeind. Damit spielen die identitären Rattenfänger sehr professionell."

Zwar würde die Bedrohung durch Russland und die Zustimmung zu Sanktionen die Europäer derzeit zusammenschweißen. "Doch wenn dann die Preise weiter steigen, dann kann das schnell wieder in die andere Richtung gehen", sagt Schmidt.

Rückschritt

Ein Wahlsieg Le Pens gegen Emmanuel Macron würde tatsächlich eine riesige Bresche in die westliche Front gegen Wladimir Putin schlagen. Le Pen will, so wie einst de Gaulle, das gemeinsame Militärkommando der Nato verlassen und strebt nach einer "strategischen Annäherung" an Russland. Den USA wirft sie Hegemonialstreben vor, und mit Deutschland, seit 70 Jahren Frankreichs engster Verbündeter, sieht sie "unüberbrückbare strategische Differenzen".

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In Ungarn hat Viktor Orbán mit Nationalismus triumphiert.
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Der Schaden einer Präsidentin Le Pen für die EU wäre wohl noch größer als für die Nato. Ein großer Mitgliedsstaat wie Frankreich könnte die ohnehin mühsame Suche nach Kompromissen blockieren und durch Nichtanerkennung von Entscheidungen die Legitimität der Union untergraben. "Eine Le-Pen-Präsidentschaft wäre ein Rückschritt, der bis zu einer Implosion der Europäischen Union führen kann", warnt Schmidt.

Aber warum ziehen die Thesen der EU-Skeptiker, die die nationale Souveränität verteidigen und vor einem Superstaat Europa warnen, so gut? Sicher tragen nationale Politiker dazu bei, wenn sie Erfolge für sich beanspruchen und für Probleme, etwa bei der Beschaffung des Corona-Impfstoffes, sofort Brüssel verantwortlich machen.

Aber diese Masche funktioniert nur, weil sie auf eine entsprechende Stimmung trifft. Die berüchtigte Brüsseler Bürokratie taugt auch nicht als Begründung: Kleiner als der Wiener Magistrat, ist die EU-Kommission angesichts von 27 verschiedenen Rechtsordnungen zum i-Tüpferl-Reiten gezwungen.

Demokratiedefizit? Wo?

Auch der Vorwurf, in der der EU komme die Demokratie zu kurz, lässt sich bei näherem Hinsehen nicht aufrecht erhalten. Schließlich sind alle Institutionen demokratisch legitimiert, das Europäische Parlament sogar direkt gewählt, und über die Kommissare wird, anders als bei Ministern, von diesem Parlament einzeln abgestimmt.

DER STANDARD

Die Schwächen des europäischen Modells treten dann auf, wenn einzelne Staaten sich basisdemokratisch gebärden und Mehrheitsentscheidungen blockieren. Werden sie überstimmt, schreien nationalistische Politiker à la Orbán und dem polnischen starken Mann Jarosław Kaczyński "Diktatur".

Für Schmidt liegen die Ursachen im Bereich der Gefühle. "Das Problem ist die Distanz", sagt er. Es fehlt die gemeinsame Sprache und Kultur. Es ist so schwer, aus Brüssel heraus europäische Politik zu kommunizieren. Die Sprache der Abstraktheit schafft dann eine Öffnung für nationale Tendenzen."

Was die EU-Skeptiker übersehen, ist, dass bei einer schwachen EU der Einfluss der Staaten schwindet. Kleine Länder werden von den größeren überrollt, wenn es keine neutrale Institution gibt, die sie schützen kann. Und auch die "Grand Nation" wäre unter Madame Le Pen ein globaler Zwerg.

Logisch gedacht, müsste sich die Europäische Union zu einem Bundesstaat weiterentwickeln, damit Europa sein ganzes Potenzial entfalten kann. Doch das würde die große Mehrheit der Menschen überfordern, ist auch Schmidt überzeugt. So wird die EU auch bei einer Wiederwahl Macrons ein strukturelles Stückwerk, in dem die Politik nie schön anzuschauen ist – selbst wenn sie wirkt. (Eric Frey, 18.4.2022)