Geplant war ja etwas ganz anderes: die Geschichte jenes Mannes, der am Donnerstag in Schönbrunn zwischen Gloriette und Neptunbrunnen 1.000 Höhenmeter lief.

Und all jene, die mich vor ein paar Wochen gemeinsam mit der Nightrun-Veranstalter-Familie Menitz beim Shooting für das Cover des 200-Jahre-Hauptallee-Magazins auf der "PHA" gesehen hatten, wollte ich vertrösten. Weil diese Leute einen Jubeltext über die "World Athletic Heritage"-Medaille, die die Allee (und damit Wien) Anfang April verliehen bekommen hatte, erwarteten. Oder sogar einmahnten.

Aber ich war beim Shooting – so wie die Menitze auch – nur Model. Mit der Medaille habe ich nichts zu tun. Und den Inhalt des Heftes kenne ich nicht.

Foto: Tom Rottenberg

Vielleicht steht die Geschichte der "World Athletic Heritage"-Medaille (WAH) aber ohnehin so in dem eigens ihretwegen herausgebrachten Magazin.

Obwohl: Wirklich wahrscheinlich ist das nicht.

Aber der Reihe nach: Die WAH-Geschichte ist durchaus spannend. Die Medaille wurde nämlich im Dezember 2018 zum ersten Mal verliehen. An zwölf Megalegenden der Leichtathletik: Bikele. Szewinska. Zatopek. Die Liga der ganz Großen – posthum.

Im Frühjahr 2019 kamen aber schlagartig und ein wenig inflationär knapp 20 Veranstaltungen dazu. Und im Herbst 2019 setzte es 23 weitere Ehrungen: ein bunter Mix aus verdienten Trainerinnen und Trainern, Bewerben und Athletinnen und Athleten – aber auch Laufmagazinen.

Dann war ein Jahr WAH-Pause, bis im Oktober 2020 wieder fünf Bewerbe ausgezeichnet wurden. 2021 folgte dann ein Zehner-Mix aus Bewerben, Athletinnen, Coaches und Medien – und die brasilianische Olympia-Galerie in Manaus.

Foto: Tom Rottenberg

Heuer, 2022, kamen (bislang) drei Medaillen hinzu: eine für Peter Snell und Cooks Garden – den Ort, an dem Snell 1962 Weltrekord über die Meile lief. Eine für das traditionsreichste Straßenrennen Serbiens, das Memorial Aleksandar Aca Petrović. Und eben die PHA. In der Kategorie "Landmark" ist sie der erste öffentliche Ort, an dem neben Bewerben und Weltrekorden (Kipchoge!) jederzeit von jedem und jeder gelaufen werden kann.

Ein Schelm, wer da zwischen echten Größen ein wenig Beliebigkeit oder gar Gefälligkeits- oder PR-Stunts wittert. Und ein Miesmacher, wer sich wundert, dass im selbstgefälligen Polit- und Media-Jubel über die Erhebung des "Strips" zum "Welterbe der Leichtathletik" nicht einmal die sonst so seriöse APA die Eckdaten der Geschichte in der Presseaussendung nachgoogelte.

Foto: Tom Rottenberg

Ich verstehe das: Freuen ist schöner als fragen.

Und mühsam ist recherchieren ja auch. Erst recht, wenn Widersprüche auftauchen. Etwa weil in der Stadt-PR und von den Ehrenden ganz stark und intensiv und immer wieder auf ein sich heuer angeblich jährendes 200-Jahr-Jubiläum hingewiesen wird. Den Beginn der "Karriere" der PHA als Austragungsort von Laufbewerben am 1. Mai 1822: So etwas gilt es zu feiern, ganz klar.

Und vielleicht, ganz bestimmt sogar, gibt es auch irgendwo Belege oder Dokumente für das, was da groß rausposaunt und gefeiert wird.

Ich habe sie halt nicht gefunden – aber das liegt vermutlich an mir: Ich habe einfach zu genau hingeschaut.

Screenshot: PID

Einen Laufbewerb am 1. Mai 1822 findet man in den Annalen der Stadt nämlich: Auf der Webseite des Bezirksmuseums Leopoldstadt. Dort steht: "Schon früh wurde der Prater für Wettkämpfe und andere sportliche Aktivitäten genutzt. 1822 bis 1848 gab es am 1. Mai 'Lauferrennen'". In der "Wiener Zeitung" taucht die gleiche Zeitspanne dann 2009 in einer Marathon-Geschichte auf. Und im "Kurier" sprach der Sporthistoriker Rudolf Müllner im Mai 2021 von "schnellen Burschen", die "von 1822 bis 1847" hier liefen. Nur: Dass das das erste organisierte Rennen und somit der Beginn der Laufgeschichte der Allee und Wiens war, steht dort nirgendwo.

Aus gutem Grund: Im von der Stadt Wien redaktionell verantworteten "Geschichte Wiki Wien" wird rund um die Öffnung des Praters für das Volk im Jahr 1766 von vielen kleinen und großen Ereignissen erzählt. Das Jahr 1822 kommt nicht vor, Laufen aber schon: "Bereits zur Zeit Karls VI. wurde in der Hauptallee alljährlich am 1. Mai das Wettrennen der Laufer abgehalten."

Hier stört ein Detail die PR-Jubiläums-Idylle: Karl VI. starb am 20. Oktober 1740. Ooops.

Screenshot www.geschichtewiki.wien.gv.at/Prater

Ich habe aber eine Idee, wo der – heuer ganz zufällig so fein ins Narrativ passende – Fehler herkommen könnte: In einigen Berichten wird das "Lauferrennen" als "ab 1822 Teil des Prater-Frühlingsfestes" erwähnt. Dieses Frühlingsfest am 1. Mai gibt es seit 1814.

Meine (Obacht!) Mutmaßung: 1822 wurde zusammengeführt, was zuvor parallel ablief – das ist heute in der Eventbranche auch nicht ganz unüblich.

Aber sogar wenn das "Lauferrennen" da, wenig wahrscheinlich, neu erfunden worden sein sollte: Organisierte Laufbewerbe gab es laut Stadtgeschichte schon davor.

Foto: Tom Rottenberg

Nebenbei: "Laufer" gab es schon vor Karl VI. – und lange nach ihm: "Es handelte sich um junge Männer, die (gleichsam als Herolde) mit langen Stäben in der Hand und in den Wappenfarben ihrer adeligen Herrschaften prunkvoll gekleidet vor den Kutschen vornehmer Besitzer einherliefen, um deren Ansehen zu steigern, vor allem aber, um den Kutschen den Weg freizumachen." Quelle: Wieder das "Geschichte-Wiki".

Der Schnellste brauchte für die Strecke "Lusthaus und zurück" demnach 30 Minuten. Da die PHA etwa 4,3 Kilometer lang ist, wäre das bei 8,6 Kilometern eine 3’30"er-Pace. Aber "prunkvoll gekleidet" samt Heroldstab – vermutlich auf gewalztem Schotter oder Erdreich. Nach dem Lauf vom 1. Mai 1847 untersagte Ferdinand I. die Rennen übrigens – wegen "Unmenschlichkeit".

(Im Bild: die Wiener Läuferin Naddy Mayer vergangenen Sonntag auf der Hauptallee bei ihrem letzten Vorbereitungslauf für den diesjährigen Vienna City Marathon.)

Foto: Naddy Mayer

Da das nicht so super ins Jubiläums-Narrativ der Welt-Lauferbe-Metropole Wien passt, lassen wir das jetzt lieber beiseite – und feiern trotzdem.

Weil eines tatsächlich unbe- und unumstritten ist: Spätestens seit Eliud Kipchoge auf der Hauptallee 2019 als erster Mensch in weniger als zwei Stunden die Marathondistanz lief, ist der "Strip" tatsächlich weltberühmt.

Eine bessere Werbung für die "Laufstadt Wien" gibt es nicht. Der PR-Wert von Kipchoges Flug über den stellenweise eigens für ihn frisch asphaltierten Betonstreifen für Wien ist nicht bezifferbar: eine gute Investition.

Dass diese die Stadt – dem Vernehmen nach, denn bestätigt wird so etwas naturgemäß nie – keinen Cent kostete, weil zunächst der VCM, der Vienna City Marathon. in "Vorleistung" gegangen sein soll und danach der Sponsor, Ineos, alles bezahlte, ist ein Detail. Schlau eingefädelt!

Trotzdem sagt es, so es stimmt, eine Menge über den Stellenwert von Sport im Allgemeinen und Leichtathletik im Besonderen aus. Und: Nein, das betrifft wahrlich nicht nur Wien.

Foto: Tom Rottenberg

Wie viel Luft nach oben es da gibt, lässt sich nicht nur am ewigen Polit-Lippenbekenntnis zur "täglichen Turnstunde" trotz eklatantem Bewegungsmangel und Übergewichtsanstiegen bei Kindern und Jugendlichen ablesen: Vom Sport reden sie alle – dafür tatsächlich etwas tun dürfen und sollen aber, bitte, die anderen.

Das zeigt sich auch auf der und rund um die Hauptallee: Klar ist es toll, dass hier – am "Strip" – seit Jahren alles und jeder läuft. Hier sind zu jeder Jahreszeit und de facto bei jedem Wetter Läuferinnen und Läufer unterwegs. Vom VCM über Frauenlauf und Wings for Life bis hin zu 1.001 kleinen Rennen und zig Trainingsgruppen – und auch sonst wer auch immer in Wien rennt.

Der löchrige Asphalt wird aber erst für den Superstar (von wem auch immer bezahlt) erneuert – und die bestenfalls "wackelige" Selbstlob-Wuchtel vom 200-Jahr-Laufjubiläum spielt man raus, weil es gut klingt. Egal, was die eigenen Haushistoriker-Seiten dazu sagen.

Foto: Tom Rottenberg

Dabei wäre es so einfach, mehr als PR-Hülsen zu produzieren. Gerade wenn es ums Laufen geht, hätte Wien tatsächlich Potenziale, die es nur abzurufen gilt. Wie? Das haben die VCM-Macher etwa mit dem genialischen "Kipchoge 100er" vorgezeigt – als sie in oder zwischen den Lockdowns Möglichkeiten suchten, Läuferinnen und Läufer auf die Straße zu holen.

Ich liebe (und nutze) diese Markierung mit "meinen" Gruppen regelmäßig: Es gilt, eine markierte 100-Meter-Strecke zu laufen. So schnell wie Kipchoge hier 2019, also in 17 Sekunden. 100 in 17 ist für "Normalos" eine Herausforderung. Aber egal, ob sie das schaffen oder nicht: Der Satz "Das rennst jetzt 420-mal ohne Pause, dann bist du so schnell wie Eliud" schießt allen den Vogel raus.

Natürlich könnte man das auch anhand der "klassischen" Markierungen am PHA-Streckenrand spielen. Oder bei Markierungen auf Treppelwegen auf der Donauinsel, am Donauufer oder am Donaukanal. Nur: Durch den Eliud-Bezug wird Weltklasse "spürbar".

Foto: Tom Rottenberg

Das geht auf der Hauptallee aber auch sonst sehr gut. Eben weil hier auch die heimische Elite rennt. Nicht nur im Wettkampf. Wenn da ein Eliteathlet oder eine Eliteathletin vorbeifliegt, sage ich "meinen" Läuferinnen und Läufern regelmäßig, sie sollen die Augen zumachen. Das macht – zum Glück – eh niemand. Aber die Botschaft kommt an: Wirklich gute Läuferinnen und Läufer hört man nicht. Oder halt kaum. Weil sie im Gegensatz zum Pulk der Normalos nicht oder kaum auf die Fersen trampeln: Technik erklären ist das eine – den Unterschied vors Auge (oder Ohr) gesetzt zu bekommen, das andere.

(Im Bild: die Triathletin Tanja Stroschneider und – in der Gegenrichtung – Olympia-Marathoner Lemawork Ketema.)

Foto: Tom Rottenberg

Noch besser: mitlaufen. Etwa wenn Julia Mayer, bei den Frauen in Österreich derzeit das Maß sehr vieler Dinge, bei einem der organisierten (kostenlosen!) Mittwoch-Trainingsläufe des Österreichischen Frauenlaufes vorbeischaut. Aber auch ohne Julia ist der Mittwochabend für hunderte Frauen ein Fixtermin: Die anderen Trainerinnen hier wissen nämlich auch sehr genau, was sie wie und mit wem machen.

Der Spirit und der Spaß, den die Frauen hier ganz offensichtlich finden, macht mich – ich gebe es zu – neidig. Aber dass das eine Women-only-Party ist, ist richtig und auch wichtig. Ich verstehe sehr gut, dass und warum ich nicht mitspielen darf.

Auf der PHA kann ich aber staunend zuschauen. Und somit lernen.

Foto: Tom Rottenberg

Manches "Lehrstück" auf der PHA funktioniert aber auch als Metapher für angewandte Wiener "Zwiderness". Die Geschichte mit den Spinden etwa: Die Würstelstandler der "Sportler Oase" (am Eck Hauptallee/Stadionparkplatz) retteten einst 20 Spinde vor dem Sperrmüll – und stellten sie hinter ihrem Stand auf. Super, weil echtes Service für alle, die nicht mit dem Auto kommen.

Die Kästchen waren mit Pfand, also ohne Gewinnabsicht, für alle nutzbar. Ausdrücklich auf eigenes Risiko. Wegkam nie etwas – bis auf die Spinde selbst: Welcher Sympathieträger die "Oase" da wegen "widmungsfremder" Aktivitäten auf einem formal nur für Gastronomie zugelassenen Flecken Prater angezeigt hat, wurde nie bekannt.

(Und weil ich kein Bild der alten Spinde habe, kommt hier eines des schönsten Baumes an der PHA: "So schön und kitschig, dass es keiner glaubt", sagte die Frau, die am Sonntag neben mir exakt den gleichen Schnappschuss machte.)

Foto: Tom Rottenberg

Natürlich ist auch das nur ein Detail. Ein Mosaikstein.

Einer der ganz ganz wenigen Kleinteile in einem großen Puzzle, das insgesamt wunderschön ist.

Bei dem es in Wirklichkeit ja tatsächlich egal ist, wann genau der erste Bewerb oder Wettkampf stattgefunden hat. Oder mit welcher Motivation PR-Plaketten angekarrt werden, die außer Politikerinnen und Politikern (jedweder Couleur) die annehmen, dass ihre Worthülsen und Sonntagsreden so plötzlich geglaubt werden, niemand beachtet.

Die Hauptallee ist trotz, wegen und mit all dem, was sie ist: ein Dorfplatz. Eine Möglichkeit. Und der für alle jederzeit zugängliche Beweis für eine Lebensqualität, die in Wien, in Österreich, so selbstverständlich ist, dass sie den meisten Menschen, die hier leben, gar nicht mehr auffällt.

Egal, ob sie laufen oder nicht.

(Die Geschichte vom Grazer, der zwischen Gloriette und Neptunbrunnen an einem Vormittag 1.000 Höhenmeter sammelte, kommt halt nächstes oder übernächstes Mal.)

(Tom Rottenberg, 19.4.2022)


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