Assyriologin Nicla de Zorzi erklärt im Gastblog, wie sich aus den Schriften babylonischer Priester, Heiler und anderer Gelehrter das Weltbild der Babylonier rekonstruieren lässt.

"Der Mund der Hexe soll wie Wachs sein … Der Mund der Hexe, der Böses über mich gesprochen hat, soll sich wie Wachs auflösen", so heißt es in einem babylonischen Spruch zur Abwehr von Schadenzauber vom Anfang des ersten Jahrtausends v. Chr., der in mehreren Abschriften auf Keilschrifttafeln aus dem heutigen Irak überliefert ist. Der Spruch ist Teil eines komplexen Rituals, in dem ein Professionist, ein Heiler mit magischen Fähigkeiten, und sein Patient, der Behexte, magische Formeln sprechen, die von magischen Handlungen begleitet werden. In diesem Fall wird eine Wachspuppe, die die Hexe repräsentiert, ins Feuer geworfen: Das Schmelzen der Wachshexe entspricht der angestrebten Vernichtung der Hexe selbst oder mindestens der Lösung ihres Zaubers.

Spiegelung als Grundprinzip babylonischer Magie

Rituale dieser Art kennt man aus vielen Kulturen; die Besonderheit dieses babylonischen Beispiels liegt einerseits in seinem hohen Alter und andererseits daran, dass damit die zugrundeliegenden Vorstellungen der altmesopotamischen Kultur detailliert rekonstruieren werden können. Babylonien war eine der Kulturen, die eine in der Terminologie des französischen Anthropologen Philippe Descola "analogistische" Weltsicht hatten bzw. haben. Es ist wohl die älteste Kultur, an der sich das gut zeigen lässt. Mit Analogismus ist gemeint, dass die Welt über Bezüge erklärt wird, die sich aus Ähnlichkeiten erschließen. Dinge und Phänomene sind über Ähnlichkeiten miteinander – wir würden sagen: potenziell kausal – verknüpft. Die Wachspuppe ist der Hexe ähnlich, wird sie im Feuer aufgelöst, so die Vorstellung, wird der Hexe etwas Ähnliches widerfahren. Spiegelung bzw. Retaliation durch Ähnlichkeit wie hier ist ein Grundprinzip der babylonischen Magie, das manchmal auch direkt angesprochen wird. Zum Beispiel heißt es in einem Ritual: "Behexe den Hexer, der mich verhext hat, mit der Hexerei, die er mir angehext hat". Es ist ein spiegelndes Wortspiel, das im babylonischen Original noch offensichtlicher ist als in der Übersetzung und dort auch eindrucksvoll "zischt": "kaschap ikschipanni kischpi ikschipanni kischipshu."

Keilschrifttafel mit Anweisungen zur Herstellung von Amuletten.
Foto: Nicla de Zorzi

Durch Analogie meinen die Babylonier, auch Wissen über die Zukunft gewinnen zu können: Hat beispielsweise ein totgeborenes Lamm einen missgebildeten Kopf, der an einen Löwen denken lässt, ist das ein schlechtes Vorzeichen für den König, weil der Löwe den König unter den Menschen repräsentiert. Ebenso ist die Sprache für die Babylonier nicht wie für uns ein rein konventionelles Zeichensystem, sondern steht in – von den Göttern gewollter – direkter Verbindung mit dem Bezeichneten. Dementsprechend bedeutet das babylonische Wort awatu sowohl "Wort" als auch "Sache" – zwischen diesen Begriffen wird nicht unterschieden. Die sprachliche Nennung einer Sache hat so eine direkte Wirkung auf die Sache selbst. Außerdem ist nichts sprachlich mächtiger als ein Name. Babylonische Könige erhofften sich daher Unsterblichkeit, indem sie durch ihre Inschriften sicherstellten, dass ihre Namen weiter gelesen und damit ausgesprochen werden würden.

Ähnlichkeitsmagie und Zukunftsdeutung

Unser vom Europäischen Research Council gefördertes und am Institut für Orientalistik der Universität Wien beheimatetes Forschungsprojekt REPAC untersucht das analogistische Weltbild der Babylonier, das sich aus den Schriften babylonischer Priester, Heiler und anderer Gelehrter rekonstruieren lässt. Es geht uns darum zu zeigen, wie dieses Weltbild das babylonische Denken wesentlich bestimmt. Wir beschäftigen uns mit Ähnlichkeitsmagie und analogistischer Zukunftsdeutung auf Basis von Rückschlüssen aus Zeichen auf ähnliche zu erwartende Ereignisse – wie in dem Beispiel oben. Wir untersuchen außerdem die babylonische Literatur, in die immer wieder analogistische Vorstellungen eingewoben sind und die über Wortspiele und Wortähnlichkeiten theologische und moralische Aussagen macht – was bisher kaum beachtet wurde.

Amulett mit Darstellung des Dämons Humbaba.
Foto: Nicla de Zorzi

Natürlich gab es auch bei den Babyloniern soziale Mechanismen, die erklärend eingreifen konnten und mussten, wenn analogistisch argumentierte Erwartungen in der Realität nicht eintraten, wenn zum Beispiel ein Fieberkranker (Schadenzauber?) trotz Abwehrzaubers und Gabe der analogistisch indizierten pflanzlichen Medizin (Fieberröte? – also rote Heilpflanze!) starb, oder wenn sich ein König bester Gesundheit erfreute trotz der vom Hofwahrsager als sehr bedenklich bewerteten Geburt eines löwenköpfigen Lammes. Das analogistische und zumindest in Ansätzen mechanistische Weltbild konnte gut mit einem theistischen Überbau koexistieren, dem zufolge Ähnlichkeit und Analogie im Wesentlichen der Schlüssel zum Verständnis des Willens der Götter waren. In diesem Verständnis konnten die Götter beispielsweise den König durch die Fehlbildung warnen, aber dann doch ihren Plan ändern – etwa infolge eines gut durchgeführten Rituals des entsprechend großzügig zu entlohnenden Hofwahrsagers. Damit entzog sich das System einer empirischen Widerlegung.

Aus der Weltsicht der babylonischen Gelehrten werden wir nichts über die Kausalitäten in unserer physischen Welt lernen. Umgekehrt hätte allerdings ein babylonischer Arzt die analogistischen Methoden der traditionellen chinesischen Medizin und das Grundprinzip der Homöopathie nach ihrem Gründer Hahnemannsimilia similibus curentur, paraphrasiert: "Das Heilmittel sei dem Symptom ähnlich" – für grundvernünftig gehalten. Was wir von den Babyloniern erhalten, sind vielmehr Einblicke in eine fremde, lang versunkene Kultur, die uns auf ihre Weise dennoch einen Spiegel vorhalten kann, in dem wir Ähnlichkeiten zu uns selbst sehen. In einem babylonischen Handbuch von konstruierten Vorhersagen überlegen die Autoren/Wahrsager, was gänzlich absurde Vorzeichen bedeuten könnten. Zum Beispiel: "Wenn der Stadtgraben mit Bier gefüllt ist, bedeutet das, die Frauen werden die Waffen ergreifen und ihre Männer erschlagen." Verkehrte Welt: Bier statt Wasser im Stadtgraben bedeutet eine völlige Umkehrung auch der sozialen Verhältnisse, Frauen greifen zu den Waffen und töten Männer. Die Normalität war für die Babylonier – und ist auch für uns – das Umgekehrte. (Nicla de Zorzi, 21.4.2022)