Lucie Zhang und Makita Samba als Cross-Culture-Pärchen.

Foto: Filmladen

Wenn man in Paris die zentralen touristischen Pfade rund um das Quartier Latin verlässt und sich ein wenig nach Süden orientiert, wenn man vielleicht sogar die Place d’Italie hinter sich lässt, dann kommt man in ein Viertel namens Olympiades im 13. Bezirk. Dort ist auch ein Chinatown, und so verwundert es nicht, dass Jacques Audiards Film Wo in Paris die Sonne aufgeht damit beginnt, dass eine junge Frau namens Emilie Wang einem jungen Mann namens Camille gegenübersteht, der bei ihr ein Zimmer sucht.

Emilie spricht Mandarin und Französisch, sie arbeitet im Telemarketing und als Kellnerin. Camille ist Professor für Literatur, orientiert sich aber gerade neu. Sein Vorname ließ eigentlich eine Frau erwarten, aber das spielt für Emilie bald keine Rolle mehr. Man schläft miteinander, das mit der WG ("coloc") klappt auch, damit wird der Sex regelmäßiger, es stellen sich aber bald Definitionsfragen: Sind wir etwa zusammen? Das nicht.

Im Original heißt Wo in Paris die Sonne aufgeht einfach Les Olympiades, und mit der einen oder anderen Panoramaaufnahme aus der Luft macht Audiard deutlich, dass es ihm tatsächlich um ein Porträt einer Landschaft in Paris geht. Ein Porträt auch der modernen Lebensweise, gefilmt allerdings in einem leicht distanzierten Schwarz-Weiß, das vielleicht auch den Vorteil hat, dass die häufigen Sexszenen ein wenig kunstvoller wirken.

Vielfalt und Sensibilität

Sexualität ist nicht nur als Akt das zentrale Motiv des Films, auch alle Beziehungen suchen ihre Form zuerst einmal in der Lust. Danach kommen aber eben herkömmlichere Aspekte ins Spiel. Liebe, Selbsterkenntnis, Familie. Kann man einen Liebhaber zum Begräbnis der geliebten Großmutter mitnehmen, wo die ganze (chinesische) Familie zugegen sein wird?

Die Antwort darauf ist dann schon eine der Pointen des Films. Audiard ist im französischen Kino bisher mit ein paar dezidiert virilen Geschichten aufgefallen (Der wilde Schlag meines Herzens war großartig, ebenso Ein Prophet). Nun geht er stärker in Richtung Geschlechtersensibilität, und auch die kulturelle Vielfalt des Viertels wird berücksichtigt. Camille hat afrikanischen Hintergrund, seine Schwester Éponine (eine spannende Nebenfigur, die leider episodisch bleiben muss) macht Stand-up und thematisiert dabei die Sexualität ihres Vaters!

Frau in Flammen

Komplettiert wird das Ensemble durch Nora, eine Studentin aus Bordeaux, die mit ihrer Lust hadert und im Internet eine unerwartete Begegnung hat. Nora wird von Noémie Merlant gespielt, bekannt aus Porträt einer jungen Frau in Flammen. Die Regisseurin Céline Sciamma hat an einer Frühfassung des Drehbuchs zu Wo in Paris die Sonne aufgeht mitgewirkt, ohne dass sich eindeutige Handschriften erkennen ließen.

Weil Audiard im Hintergrund konsequent einen Querschnittfilm als Richtschnur mitdenkt (Paris – Symphonie einer Großstadt), kommen die einzelnen Geschichten über Andeutungen nicht immer hinaus. Die Dramaturgie ist dabei durchaus konventionell, aus dem Beiläufigen könnte vielleicht etwas Verbindlicheres werden, im Dickicht der urbanen Zufälle versteckt sich das Menschenwesen, das zu einem signifikanten Anderen werden könnte.

Das ist insgesamt fast schon romantisch gedacht, und so bekommt das Schwarz-Weiß dann auch noch eine weitere Dimension: eine Reminiszenz an eine Zeit, in der das Kino noch meinte, auf die Liebe spezialisiert zu sein. Und auf die Stadt der Liebe, zu deren Mythologie Wo in Paris die Sonne aufgeht ein kleines Kapitel beiträgt. Ab Freitag (Bert Rebhandl, 20.4.2022)