Die "Frau von Willendorf" wird heute anders ins Licht gerückt als zur Zeit ihrer Entdeckung Anfang des 20. Jahrhunderts.

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Fruchtbarkeit, Weiblichkeit, Sex – die als Venus von Willendorf berühmte kleine Steinfigur wurde lange Zeit vorwiegend damit in Zusammenhang gebracht. Doch nun bröckelt diese Interpretation über ihre Bedeutung, und es zeigt sich, dass der Blick auf die 30.000 Jahre alte Plastik von Klischees getrübt war. Das veranlasst Forscherinnen auch, inzwischen, von der "Frau von Willendorf" zu sprechen und nicht mehr von der "Venus", wie sie bis heute in Schulen vorstellig wird.

Ihr üppiger Busen und ihr dicker Bauch gelten als Sinnbild für ausgeprägte Fertilität, ihre Nacktheit brachte ihr das massentaugliche Label "Steinzeit-Pin-up" und eine kurzzeitige Zensur bei Facebook ein, die ein Bild von ihr 2018 als "gefährlich pornografisch" einstufte, es löschte, um dann Statuen doch als Ausnahme zu definieren. Nacktheit ist gleich Porno oder Sex? Das war wohl in der Steinzeit anders.

Nackt ist gleich Sex?

Nun mehren sich die Stimmen von Prähistorikerinnen, die gegen die dominanten Lesarten argumentieren. Steinzeitliche Gesellschaften wanderten Tierherden nach. Ständig schwanger und mit vielen Kindern auf Tour? Das lässt daran zweifeln, dass in so einer Gesellschaftsordnung Fruchtbarkeit als hohes Gut galt.

Für noch wackeliger halten Forschende die Einschätzung, die Frauenfigur hätte etwas mit Erotik zu tun. Immerhin basiert diese Vorstellung nur darauf, dass sie nackt dargestellt ist. Und nicht nur das: Wer einen genaueren Blick auf unterhalb ihres üppigen Bauches wirft, findet auch recht stattliche Vulvalippen hervorragen. Zu Zeiten des züchtigen und angezogenen Fundjahres 1908 reichte das für eine Sex-Deutung.

Angesehen, alt und weiblich

Die Wissenschaftshistorikerin Claudine Cohen hält es inzwischen für wahrscheinlicher, dass die Figur eine ältere, weise Frau oder eine Großmutter darstellt. Skelettfunde zeigten, dass im Paläolithikum viele Frauen auch nach ihren Wechseljahren noch länger lebten und sie womöglich ein hohes gesellschaftliches Ansehen genossen, weil sie wertvolles Wissen an Jüngere weitergeben konnten.

Doch die Beweislage in Bezug auf die sozialen Strukturen in der Altsteinzeit bleibt dünn, über vieles kann nur spekuliert werden. Über die vermuteten Rollen der Frau von Willendorf entscheidet somit auch der jeweilige Zeitgeist. Vielleicht lernen sie nächste Generationen nicht mehr als Fruchtbarkeitssymbol, sondern als Role-Model gegen Jugendwahn und für Body-Positivity kennen. Vorläufig zumindest. (Beate Hausbichler, 19.4.2022)