Tierische Vorhersagen: Zwar gibt es zahllose Berichte, aber keine wissenschaftlich unstrittigen Beweise.

Illustration: Fatih Aydogdu

Die Idee, dass Tiere einen sechsten Sinn besitzen, der ihnen erlaubt, Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Vulkanausbrüche vorherzusagen, existiert schon lange in den Köpfen vieler Menschen.

Alexander von Humboldt berichtete im Jahr 1797 von panischen Tieren kurz vor einem Erdbeben in Venezuela. Auch vor dem Beben im Indischen Ozean und den folgenden Tsunamis im Dezember 2004, die gesamt rund 230.000 Todesopfer forderten, flüchteten Tiere verschiedenen Berichten zufolge massenhaft.

Berichte, aber keine Beweise

Berühmtheit erlangte in diesem Zusammenhang auch das Erdbeben der Stärke 7,3, das im Februar 1975 die chinesische Stadt Haicheng erschütterte. Unter anderem aufgrund von Berichten über bodenbewohnende Tiere, die ihre Bauten mitten im Winter fluchtartig verließen, wurde die Stadt wenige Tage vor der Katastrophe evakuiert.

Allerdings kamen im Folgejahr bei einem Beben in der ebenfalls chinesischen Stadt Tangshan mehr als 600.000 Menschen ums Leben. Ob die Warnsignale aus der Tierwelt, wie später berichtet, tatsächlich ignoriert wurden, ist heute nicht mehr rekonstruierbar. Es zeigt sich jedoch eindrücklich das Problem der tierischen Vorhersage: Zwar gibt es zahllose Berichte, aber keine wissenschaftlich unstrittigen Beweise.

Bauernhoftiere mit Sender

Der Biologe Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell und sein Team testen seit Jahren, ob Tiere vor katastrophalen Ereignissen ihr Verhalten in einer Weise ändern, die den Charakter eines Frühwarnsystems hätte. Eine der Studien befasste sich mit Bauernhof-Tieren nahe der mittelitalienischen Stadt Norcia.

Das schwerste Erdbeben der letzten Jahre mit einer Stärke von 6,6 ereignete sich in Norcia im Oktober 2016, doch bebt die Erde in dieser Region immer wieder mehr oder weniger heftig. Für Wikelskis Untersuchungen eignet sich die Gegend daher hervorragend.

Ein internationales Team unter Wikelskis Leitung stattete sechs Kühe, fünf Schafe und zwei Hunde, die nach Aussagen der Besitzerinnen und Besitzer schon früher sensibel auf Beben reagiert hatten, noch vor dem großen Beben mit Biologgern aus. Diese zeichneten nicht nur die Bewegungen der Tiere auf, sondern – über Sensoren, die mittels eines maßgefertigten Gurtzeugs an mehreren Körperstellen angebracht wurden – auch ihre Beschleunigung.

"Auf diese Weise lässt sich rekonstruieren, was das Tier macht", erklärt Wikelski. Vorher musste freilich erhoben werden, wie sich die besenderten Tiere an ganz normalen Tagen verhalten, um gewöhnliche von ungewöhnlichen Aktivitäten unterscheiden zu können.

Nervöse Kühe im Stall

Wie die statistische Auswertung der Bewegungs- beziehungsweise Beschleunigungsmuster ergab, zeigten die Schafe keine nennenswerten Verhaltensänderungen vor einem bevorstehenden Erbeben. Die Hunde allerdings reagierten hyperaktiv, während die Kühe zuerst ungewöhnlich still wurden, ehe sie sich von der Nervosität der Hunde anstecken ließen.

Diese Reaktionen traten allerdings nur zutage, wenn sich die Kühe im Stall befanden, nicht aber auf der Weide. Das Forschungsteam nahm an, dass Tiere im Stall höhere Stress-Antworten zeigen, weil sie dort oft an ihrem Platz angekettet sind.

Als echtes Vorhersage-Werkzeug eignen sich diese Ergebnisse noch nicht, aber das war laut Wikelski auch nie der Plan: "Wir wollten lediglich sehen, ob Tiere überhaupt eine erkennbare Vorahnung für und Reaktion auf Erdbeben zeigen. Für alles Weitere ist noch sehr viel Forschung nötig."

Vulkanausbrüche

Eine andere Gefahr, die von der Erde ausgeht, nämlich Vulkanausbrüche, untersuchte Wikelskis Gruppe am Ätna in Sizilien. Dort statteten die Forschenden im Jahr 2012 eine Ziegenherde mit Bewegungsloggern aus und werteten danach ihre Aktivitäten aus. Die Tiere, die sich normalerweise frei am Berg bewegen, suchten jeweils kurz vor einem Ausbruch Gegenden mit hohen Bäumen auf, die sie normalerweise wegen der dort lebenden wilden Hunde meiden.

Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter nahmen an, dass sie Schutz vor dem Ascheregen suchen, der mit den großen Ausbrüchen einhergeht. Acht große Eruptionen ereigneten sich Wikelski zufolge in der Beobachtungsperiode 2012/13. Jedes Mal hätten die Ziegen vier bis sechs Stunden vorher dieses Verhalten gezeigt und Zuflucht gesucht. Die Zusammenhänge zeigen sich aber nur, wenn man die Reaktionen in der gesamte Herde betrachtet. Die einzelne Ziege sei "eher unsensitiv", sagt Wikelski, erst im Kollektiv reagieren die Tiere entsprechend.

Dabei ist ihm wichtig zu betonen, dass dieser vermeintliche "sechste Sinn" keine Magie ist, sondern eine physikalische Gesetzmäßigkeit. Neue, unerwartete Messeigenschaften würden immer dann auftreten, wenn intelligente Sensoren – in diesem Fall Tiere – miteinander interagierten und Informationen austauschten. Welcher Natur diese Informationen sind, ist bislang unklar. Jedenfalls hat Wikelski die "Katastrophen-Vorhersage durch Tiere" sogar erfolgreich patentieren lassen.

Verlässlich bei Erdbeben

Die meisten Seismologen vermuten hinter den vermeintlichen Zeiger-Aktivitäten diverser Tiere eher die Neigung des Menschen, Zusammenhänge zwischen allerlei Phänomenen herzustellen – ungeachtet dessen, ob sie tatsächlich ursächlich verbunden sind.

Auch Wolfgang Lenhardt von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG), einer Forschungseinrichtung des Wissenschaftsministeriums, schätzt die Datenlage dazu als "schemenhaft" ein. Auch seine eigenen Haustiere, von denen er über die Jahre eine ganze Menge besaß und mit denen er oft in seismisch aktiven Zonen lebte, hätten nie ein eindeutiges Verhalten an den Tag gelegt. Tiere würden sich auch ohne erkennbaren Grund oft ungewöhnlich verhalten, was die Vorhersage-Möglichkeiten massiv einschränke.

Es gibt jedoch einen Zeitraum, in dem Tiere Lenhardt zufolge häufig sehr verlässliche Reaktionen zeigen: zehn bis 20 Sekunden vor einem Erdbeben. So lange vor der auch für uns spürbaren S- oder Scherwelle kommt es nämlich zu einer Primärwelle, deren feine Vibrationen für uns Menschen meist nicht wahrnehmbar sind. Wohl aber für viele Tiere. Nichtsdestoweniger erfragt die ZAMG in ihrem Online-Meldebogen zu Erdbeben auch etwaiges auffälliges Verhalten von Tieren. (Susanne Strnadl, 23.4.2022)