Der Artikel stammt aus dem RONDO exklusiv, das am 29.4.2022 erschienen ist.

Auf dem Cover ist eine Arbeit des Künstlers Carlos Vergara zu sehen. Er beschäftigt sich mit Identitätsfragen. Dabei setzt er das Medium Fotografie in entfremdeter Form ein. Für die Serie "Invisibleporn" übermalt er etwa pornografische Szenen. Es bleiben nur Extremitäten sichtbar, die sexuelle Konnotation ist nur mehr zu erahnen.

Collage: Carlos Vergara

Die Zisterzienserinnenabtei Mariastern-Gwiggen in Hohenweiler thront auf einer sanften Anhöhe. Gleich dahinter liegt ein Wald, der bis zum Pfänder, dem Hausberg der Bregenzer, hin ansteigt. Von der Terrasse beim Klosterladen, in dem Kerzen, Andenken, aber auch Tropfen wie "Männerwohl" oder "Frauenschatz" verkauft werden, blickt man bis zum Bodensee.

Das ehemalige Schlossgebäude von Gwiggen mit seiner Lorettokapelle geht auf das 17. Jahrhundert zurück. Es ist ein beschaulicher, friedlicher Ort, an dem die Äbtissin Maria Hildegard Brem mit ihren Schwestern die Geschicke der Abtei leitet. Einem Gespräch über Sexualität sagt sie, ohne zu zögern, zu.

Maria Hildegard Brem studierte in Wien und unterrichtete an Gymnasien in Wien und Hollabrunn, ehe sie 1977 in die Zisterzienserinnenabtei in Hohenweiler eintrat, zu der auch eine Katze gehört.
Foto: Angela Lamprecht

STANDARD: Sie sind vor mehr als 40 Jahren ins Kloster eingetreten und meinten, es sei Ihre Berufung gewesen. Wie spürt man, dass ein solcher Schritt Berufung ist?

Maria Hildegard Brem: Ich würde es als eine tiefe Betroffenheit beschreiben. Ein Gefühl, das einem sagt, man möchte für die Menschen im Gebet da sein. Ich muss aber schon erwähnen, dass mir diese Entscheidung sehr schwergefallen ist. Es hat mich überhaupt nicht ins Kloster gezogen. Ich hätte alles andere lieber getan.

STANDARD: Was denn zum Beispiel?

Brem: Ich hatte an der Universität studiert und dann in Wien und Hollabrunn unterrichtet. Das war wunderbar.

STANDARD: Warum sind Sie dann doch ins Kloster eingetreten?

Brem: Weil ich gespürt habe, dass ich nicht "in den Frieden komme", wenn ich es nicht versuche. Das Gebet für die anderen war und ist mir einfach unglaublich wichtig. Also hab ich mir damals gedacht, "ich probier’s jetzt mal drei Monate" – und bin geblieben.

STANDARD: Haben Sie die Entscheidung irgendwann einmal bereut?

Brem: Niemals, obwohl es nicht immer einfach war. Vor allem in der Anfangsphase, in der es ja auch darum ging, das eigene Leben aufzuarbeiten. Ich hatte einige traumatische Erfahrungen im Gepäck, die sich auf meine Geburt bezogen. Die muss furchtbar gewesen sein. Da kommt einiges hoch.

STANDARD: Und warum kommt so etwas im Kloster eher hoch?

Brem: Weil man in der Stille ist. Da existiert keine Ablenkung.

STANDARD: Sie wussten bei Ihrem Eintritt ins Kloster natürlich auch, dass Sie sich im Sinne des Zölibats von der Sexualität verabschieden müssen.

Brem: Auf die Ehe zu verzichten ist mir nicht extra schwergefallen. Viel schwerer war es, meinen großen Freundeskreis aufzugeben.

STANDARD: Aber Sexualität bedeutet nicht gleichzeitig Ehe. Sie haben Anfang der 70er-Jahre unter anderem Philosophie und Psychologie an der Uni studiert. Das war eine Zeit großer sexueller Freiheit, die Hippies, die Antibabypille etc. Wie erlebten Sie diese Zeit?

Brem: Mich erfüllte von Kindheit an eine Sehnsucht, zu lieben und geliebt zu werden. Die Kraft der Liebe geht ja viel tiefer als genitale Sexualität.

STANDARD: Schön und gut, aber der Mensch ist halt auch mit sexuellen Trieben ausgestattet. Wie sind Sie damit umgegangen?

Brem: Ich war sehr viel, eigentlich fast ständig verliebt. Aber ich habe keine näheren Beziehungen geknüpft, weil ich mich fragte, was denn meine wahre Berufung sei. Die Frage lautete, entweder zu heiraten oder mein Leben ganz auf Gott auszurichten. Ich hatte ja schon vor dem Eintritt ins Kloster eine sehr intensive Beziehung zu Gott. Er war schon früh die Mitte meines Lebens.

Die Zisterzienserinnenabtei Mariastern-Gwiggen im Vorarlberger Ort Hohenweiler.
Foto: Angela Lamprecht

STANDARD: Erklären Sie doch bitte nichtgläubigen Menschen diese Liebe zu Gott.

Brem: Er ist da. Er liebt mich. Er versteht mich, möchte mich führen, alles mit mir teilen. All das steht für unglaubliche Geborgenheit und Sicherheit. Ich bin nie allein. Er ist immer bei mir – und ich immer bei ihm. So nah könnte mir ein Mann nie kommen.

STANDARD: Aber woher wissen Sie denn das? Gott spricht doch nicht mit Ihnen, oder?

Brem: Ich weiß es aus einem tiefen Glauben heraus und spüre es. Da geht es um eine innerliche Erfüllung. Auch Gott hat in gewisser Weise um mich geworben – so wie ich um ihn. Gott erfüllt meine Sehnsüchte, aber halt nur im Glauben. Man muss lernen, dass man etwas lebt, das man nicht dauernd spürt.

STANDARD: Und das, was Sie genitalisch nennen, das haben Sie nie vermisst?

Brem: Ab und zu. Ich habe mir schon gedacht und auch gespürt, dass das durchaus etwas sehr Schönes sein könnte. Aber das andere war mir viel wichtiger.

STANDARD: Sie haben auf diesem Gebiet also auch keine Erfahrungen gesammelt?

Brem: Hab ich nicht.

STANDARD: Es gab eine sehr erfolgreiche TV-Serie in den 80er-Jahren, in der es um einen Geistlichen und die Liebe geht, auch um die fleischliche. Sie hieß "Dornenvögel". Hat sie Ihnen gefallen?

Brem: Ich hab sie nicht gesehen, nur den Namen gehört.

STANDARD: Wie geht es Ihnen heute mit dem Zölibat?

Brem: Im Laufe des Lebens spürt man manchmal schon eine Sehnsucht nach einem persönlichen, nahen Du, nach einer Partnerschaft. Aber auch das beziehe ich nicht auf das Sexuelle. Im Kloster hat man 20 Mitschwestern, mit denen man sich hoffentlich gut versteht.

STANDARD: Glauben Sie, dass es für Männer schwieriger ist, das Zölibat einzuhalten?

Brem: Äußerlich betrachtet vermutlich schon. Man sagt es so. Aber ich möchte zum Zölibat noch etwas anderes sagen. Es geht ja nicht darum, etwas nicht zu dürfen, sondern etwas anders leben zu dürfen. Ich verabschiede mich ja nicht von meiner Sexualität, sondern lebe sie nur anders.

STANDARD: Ja, aber wie leben Sie denn Ihre Sexualität?

Brem: Wie ich Ihnen schon sagte, in Form einer tiefen Liebesbeziehung zu Christus, die mir die Kraft gibt, für andere Menschen aufrichtig und wohlwollend und herzlich da zu sein.

STANDARD: Und das würden Sie als Sexualität bezeichnen?

Brem: Ich würde sagen, das ist Liebeskraft im tieferen Sinne.

STANDARD: Wie beobachten Sie denn die gesellschaftlichen Entwicklungen in Hinblick auf die Sexualität?

"Ich denke, man müsste global sehr aufrichtig sagen, "wir haben da viele Jahrzehnte wirkliche Fehler gemacht"." Maria Hildegard Brem zum Umgang der Kirche mit Missbrauchsfällen.
Foto: Angela Lamprecht

Brem: Es hat sich einiges verändert. Das stimmt. Früher hat die Kirche diesbezüglich sehr viel diktiert. Man könnte sogar von einem Korsett sprechen. Das nehmen heute nur noch wenige Menschen ernst. Es herrscht eine gewisse Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit. Andererseits beobachte ich, dass viele auch nichtverheiratete Paare mit viel Hingebung, Treue und Verlässlichkeit füreinander da sind. Ich bewundere das, und auf dieses Positive sollte auch die Kirche besser hinschauen, denn da werden viele christliche Werte gelebt. Werte der Liebe.

STANDARD: Wir kommen nicht um das Thema Kirche und Missbrauchsfälle herum, das regelmäßig in den Medien auftaucht. Wie gehen Sie damit um?

Brem: Persönlich bin ich von diesen Dingen sehr betroffen und sprachlos im Angesicht der Dinge, die manche Menschen erleben mussten. Man weiß das auch nicht nur aus den Medien, sondern trifft immer wieder Menschen, die diesbezüglich schwer zu tragen haben.

STANDARD: Was würden Sie der Kirche und dem Papst im Umgang mit diesem Thema raten?

Brem: Ich denke, man müsste global sehr aufrichtig sagen, "wir haben da viele Jahrzehnte wirkliche Fehler gemacht". Kardinal Schönborn hat einmal in einem Gottesdienst unter anderem gesagt: "Ja, wir haben die Täter geschützt, wir haben die Opfer vernachlässigt ..." Es geht darum, dazu zu stehen. Das würde die Kirche viel glaubwürdiger machen.

STANDARD: Ich weiß, Sie glauben nicht an eine Wiedergeburt, im Sinne einer Rückkehr auf die Erde nach dem Tod. Wenn es diese aber doch gäbe, welchen Job würden Sie wählen?

Brem: Sagen wir es folgendermaßen: Ich würde wieder versuchen, sehr intensiv mit Gott zu leben, und dorthin, wohin er mich führen würde, dorthin würde ich ihm folgen. Auch ins Kloster. (Michael Hausenblas, RONDO exklusiv, 9.5.2022)