Boris Johnson droht eine Untersuchung.

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An diesem späten Dienstagnachmittag sagen im britischen Unterhaus eigentlich alle das Erwartete. Premierminister Boris Johnson entschuldigt sich erneut für die Lockdown-Party in der Downing Street anlässlich seines Geburtstages, die ihm vergangene Woche ein Bußgeld von Scotland Yard eingebracht hat. Labour-Oppositionsführer Keir Starmer bezeichnet sein Gegenüber wieder einmal als "unehrlich" und "Mann ohne Schamgefühl". Zwei hochrangige Tory-Hinterbänkler nehmen wie gewohnt ihren Parteichef in Schutz.

So weit, so erwartbar. Dann steht auf der Regierungsseite des Parlaments Mark Harper auf. Der schlanke, hochgewachsene Mann mit der Aura eines Filmstars war einst Chefeinpeitscher der konservativen Fraktion, in der Coronapandemie hat er sich als Kritiker allzu enger Bestimmungen profiliert. Würde er Verständnis äußern für den Regierungschef, dem im Juni 2020 seine Frau und zwei Dutzend Bedienstete sowie Finanzminister Rishi Sunak im Kabinettssaal zum Geburtstag gratulierten – ein neun Minuten dauerndes Event, wie Johnsons Medienleute übers Osterwochenende zu seiner Verteidigung gestreut haben?

Kein bisschen Verständnis, wie sich zeigt. "Wir haben einen Premierminister, der das Gesetz gebrochen und nicht die Wahrheit gesagt hat", teilt Harper in ruhigem Ton dem atemlos schweigenden Unterhaus mit. "Er ist nicht länger wert, sein wichtiges Amt zu bekleiden."

Dramatische Geste

Harper lässt seinem Paukenschlag wenig später die Nachricht folgen, er habe seinem Parteichef das Misstrauen ausgesprochen. Es bedarf 54 konservativer Fraktionsmitglieder, um eine Abstimmung über Johnsons weitere Führung der Regierungspartei herbeizuführen. Niemand weiß, wie viele der 359 Konservativen im Unterhaus beim zuständigen Parteiausschuss eine Abstimmung beantragt haben. Immerhin dürfte Harpers dramatische Geste einige zum Nachdenken bewegt haben.

Gefährdet aber wirkt Johnsons Stellung dadurch nicht. Anders als bei früheren Gelegenheiten verzichtet der Premierminister diesmal auf alberne Attacken gegen die Opposition. 100 Minuten steht er dem Unterhaus Rede und Antwort, wiederholt immer wieder seine "tiefempfundene" Entschuldigung und nutzt jede Gelegenheit, seine Verteidigungsstrategie vorzutragen: Die Regierung habe viel zu viel innenpolitische Verantwortung, vor allem aber ihre Führungsrolle bei der Unterstützung der Ukraine gegen Russlands Angriffskrieg wahrzunehmen, um die vergleichbaren Petitessen der lang zurückliegenden Coronapartys länger zu diskutieren. "Meine Aufgabe bleibt es", sagt der 57-Jährige, "das britische Volk sicherer und wohlhabender zu machen".

Im Kreis der Mächtigen

Den ersten Sitzungstag seit der 17-tägigen Osterpause nutzt Johnson vor allem dazu, auf seine angeblich führende Rolle in der westlichen Allianz hinzuweisen. Sein Statement beginnt mit dem Hinweis auf ein virtuelles Meeting mit US-Präsident Joe Biden, Frankreichs um die Wiederwahl ringenden Staatschef Emmanuel Macron und dem deutschen Kanzler Olaf Scholz zur Lage in der Ukraine. Wie zufällig lässt er einfließen, dass er auch am Dienstag vergangener Woche, als die überraschende Nachricht der Kriminalpolizei in der Downing Street eintraf, mit dem Mann im Weißen Haus sprach. Und ausführlich berichtet der Premier von seinem Besuch beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew. Seht her, lautet die Botschaft, ich habe Wichtigeres zu tun als mich um längst vergangene Corona-Vorschriften zu kümmern.

Starmer gelingt es mit einer kühl vorgetragenen, von Verachtung zeugenden Anklagerede gegen den Rechtsbrecher Johnson, dessen pompöse Weltstaatsmann-Pose zu zerstören. Auch viele andere Redner der Opposition zitieren den anhaltenden Zorn in der Bevölkerung über die Rechtsbrüche in der Downing Street. Am Donnerstag, so hat es der Parlamentspräsident Speaker Lindsay Hoyle schon vorab entschieden, darf das Unterhaus darüber abstimmen, ob es zu einer weiteren Untersuchung der Regierung kommt. Vierzehn Tage vor den wichtigen Kommunal- und Regionalwahlen dürfte die konservative Fraktion minus Mark Harper sowie einiger anderer aufrechter Tories ihrem Chef die Stange halten – jedenfalls solange nicht weitere Rechtsbrüche zutage treten. (Sebastian Borger aus London, 19.4.2022)