Im Gastblog unterzieht Daniel Witzeling die Parteivorsitzenden Österreichs einem Scan, der die vertretenen Positionen im Kontext von sozialer Erwünschtheit beleuchtet.

Die österreichische Seele ist zumindest für Außenstehende unergründbar. Ein zentraler Faktor ist jedenfalls die berühmte soziale Erwünschtheit: Sich strategisch so zu verhalten, dass man nicht wirklich aneckt und gleichzeitig nicht den Eindruck erweckt, über kein Rückgrat zu verfügen, ist die Königsdisziplin des politischen “Eiertanzes“ der österreichischen Innen- sowie Außenpolitik.

Per definitionem liegt soziale Erwünschtheit dann vor, wenn beispielsweise Befragte in einer sozialwissenschaftlichen Erhebung bevorzugt Antworten geben, von denen sie glauben, sie träfen eher auf soziale Zustimmung als die wahre Antwort, bei der sie soziale Ablehnung befürchten. Ein Schelm, wer in diesem Kontext Parallelen zu unserer Politik erkennen würde.

Spitzenpolitik im sozialen Erwünschtheitsscan

Um herauszufinden, ob sich Österreich in einem Prozess der politischen Revolution oder eher Regression - im Verständnis der Ausbreitung der beschriebenen sozialen Erwünschtheit - befindet, sollen die Spitzenkandidaten und Spitzenkandidatinnen der im Parlament vertretenen Parteien in Bezug auf ebenjene Dimension analysiert werden. 

In der psychologischen Forschung versteht man unter Regression einen Abwehrmechanismus, der der Angstbewältigung dient und bei dem ein zeitweiser Rückzug auf eine frühere Stufe der Persönlichkeitsentwicklung erfolgt. Inwiefern sich unsere Politiker und Politikerinnen aus Angst vor "Es" und "Über-Ich" sozusagen "rückentwickeln" und sich die soziale Anpassung in all ihrer Schönheit manifestiert, soll beleuchtet werden. Hinsichtlich der sozialen Erwünschtheit sei jedoch angemerkt, dass es für eine politische Person mit gut dokumentierten öffentlichen Auftritten beinahe ein Ding der Unmöglichkeit ist, mit den wechselnden Meinungen der Wählerschaft mitzuschwingen, ohne einen empfindlichen Vertrauensverlust für sich selbst und die gesamte Partei zu erleiden.

Karl Nehammer zeigt keine klaren Kanten, ist aber nicht zu unterschätzen.
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Scan Nr. 1: Karl Nehammer (ÖVP)

Den aktuellen Kanzler kann man fast als Inkarnation der österreichischen Seele sehen. Bei vielen Themen - von Corona, der Klimathematik bis zur Ukraine - ist er klar auf Seite des sogenannten Mainstreams. Der brav und bieder anmutende Parteiobmann passt gut zum typischen, klischeehaften Österreicher. Größtenteils angepasst, aber bei vieldiskutierten Themen wie der Migrationsthematik im richtigen Moment, sprich, ja nicht zu früh klare Kante zeigen. 

Man darf Karl Nehammer aber nicht unterschätzen. Die scheinbare Durchschnittlichkeit könnte, wie bei Angela Merkel, noch zu seinem größten Trumpf werden. Spätestens dann, wenn die öffentliche Wahrnehmung seiner Person mit dem Persönlichkeitsprofil von Herr und Frau Österreicher stärker zu resonieren beginnt. Bis dato ist Nehammers Politprofil noch zu farblos im Unterschied zum einstigen Chef der ÖVP, Sebastian Kurz. Doch wie das Fallbeispiel Merkel belegt, bekommen auch unscheinbare Akteure und Akteurinnen ein Profil, wenn man die Menschen nur lange genug mit ihrem Konterfei konfrontiert. Es treten ein Gewöhnungseffekt und zwischenmenschliches “Gesetz der Nähe“ in Kraft. Alles eine Frage der Zeit und Kontinuität.

Der jetzige Kanzler hat sicher mehr “Einer von uns“-Potenzial als sein aristokratischer Vorgänger Alexander Schallenberg und damit die Chance, in der österreichischen Seele mit all ihren Abwehrmechanismen von Verdrängung bis hin zur Kompensation aufzugehen, solange er nicht über sich selbst stolpert, beobachtet man manch missglückten Sager, der ihm in letzter Zeit passiert ist.

Pamela Rendi-Wagner führt aufgrund eines konformistischen Weges momentan die Umfragen an.
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Scan Nr. 2: Pamela Rendi-Wagner (SPÖ)

In Umfragen belegt die SPÖ-Chefin momentan den ersten Rang, bei der Macht im Staat allerdings nicht. Inwiefern es sich hierbei lediglich um einen Hype auf Kosten der schlechten Imagewerte der ÖVP handelt, wird man erst am Wahlabend erfahren. Um die Spitze der sozialen Erwünschtheitsskala könnten sich Pamela Rendi-Wagner und Karl Nehammer allerdings raufen.

Bei allen aktuellen Themen sind die Positionen der Ärztin glasklar und decken sich mit der vermuteten Mehrheitsmeinung ihrer Wählerinnen und Wähler. Kreative oder gar revolutionäre Ansätze zur Lösung bestehender Probleme sind Mangelware, tiefgreifende Wandlungen sind auch hier nicht zu erwarten. So liegt sie klar auf der Linie der in renommierten Medien veröffentlichten Meinung. Egal, ob es Positionen zu Corona, der Impfflicht oder dem Krieg in der Ukraine sind, wird man bei ihr keine sonderlich konträren oder gar innovativen Aussagen hören, wie etwa bei ihrem Mitbewerber von der FPÖ, der hier schon mehr als nur kreativ ist - zumindest in Zusammenhang mit Corona. Da wäre sicher mehr Spielraum für die Fachfrau auf dem Sektor der Medizin drinnen gewesen.

Herbert Kickl setzt auf Fundamentalopposition als Arbeitsprinzip.
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Scan Nr. 3: Herbert Kickl (FPÖ)

Der dritte Scan gebührt dem Chef der Freiheitlichen Partei. Einer, der sich mit Genuss gegen den Wind der sozialen Erwünschtheit stellt, da schließlich in einem anderen Stimmenpool gefischt wird. Bei der Corona-Pandemie traf er im Überlebenskampf nach der Ibiza-Affäre für seine Partei andere Entscheidungen als die anderen politischen Gruppierungen. Diese waren derart eindeutig, dass sogar zeitweise der Chef der FPÖ Oberösterreich, Manfred Haimbuchner, eine Augenbraue hochzog. Kurzfristig konnten so bei demoskopischen Erhebungen ein paar Prozentpunkte eingesackt werden.

Kickl hat von Jörg Haider auf dem Gebiet der Fundamentalopposition viel gelernt. Dabei überspannt er den Bogen aus strategischen Überlegungen heraus immer wieder. Analysiert man die momentan relevanten Themenkomplexe Corona und Ukraine-Krieg, so fällt einem schnell auf, dass die Freiheitlichen auf beiden Gebieten einmal mehr oder einmal weniger von Anfang an aus der Reihe tanzen. Das macht ihr Alleinstellungsmerkmal aus.

Bei diversen Themen hat es die Freiheitliche Partei Österreichs geschafft, thematische Zeitfenster zu finden. Die sozioökonomischen Spätfolgen von Corona kommen analog zu Long Covid immer stärker zum Tragen und die anfangs uneingeschränkte Solidarität mit der Ukraine fängt, wenn es um die wirtschaftlichen Auswirkungen auf Österreich und dessen Bevölkerung geht, nun langsam zu bröckeln an. Hier nutzt die FPÖ strategisch geschickt ein Vakuum der sozialen Erwünschtheit, welches wiederum von den politischen Mitbewerbern und Mitbewerberinnen nicht bedient wird.

Werner Kogler kann auf eine gewachsene Identität bauen, die aber nicht die Partei widerspiegelt.
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Scan Nr. 4: Werner Kogler (Die Grünen)

Der Bundessprecher der Grünen ist eine in der Bevölkerung kraft seiner Authentizität durchaus akzeptierte und respektierte Persönlichkeit. Dies steht im Gegensatz zu seiner Partei, die die soziale Erwünschtheit quasi als Substitution für die eigene Einfallslosigkeit instrumentalisiert. Der Vizekanzler ist nicht wenig erfolgreich darin, den gekonnten Spagat aus der notwendigen gesellschaftskonformen Assimilation und Nuancen einer eigenen Linie zu vollziehen.

Dies liegt nicht an etwaigen vom Meinungsmainstream abweichenden Werthaltungen zu Themen wie Corona, Klimawandel oder dem Krieg in der Ukraine, wo die Partei im Unterschied zu ihren revolutionären anarchischen Anfangsjahren nun ebenso auf der Welle der vermeintlichen Mehrheitsmeinung mitschwingt. Es beruht vielmehr auf der Tatsache der gewachsenen Identität seiner Person, die ohne das Kaschieren von Schwächen auskommt, was ihm in der Folge zu einer hohen Glaubwürdigkeit verhilft.

Beate Meinl-Reisinger fällt als engagiert, aber nicht unkonformistisch auf.
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Scan Nr. 5: Beate Meinl-Reisinger (NEOS)

Vom Habitus her stets resolut und emanzipiert, vom Anpassungsgrad der politischen Positionen waren die NEOS aber schon einmal mutiger. Für Außenstehende ist bis auf Meinl-Reisingers Engagement und die Verve ihrer Performance nicht mehr viel Abweichung zu anderen Parteien wahrzunehmen. Bei Corona konnte sich die vergleichsweise junge Partei, die einst unter Matthias Strolz das Thema Bildung und den Flügelschlag besetzte, nicht wirklich profilieren. Ebenso verhielt sich die eloquente Parteichefin wenig nonkonformistisch, was Lösungen - zumindest auf wirtschaftlicher Ebene - im Kontext des Kriegs in der Ukraine und dem Verhalten gegenüber Russland angeht.

Das Feld des Revoluzzertums wurde den Freiheitlichen und der MFG überlassen. Die Partei wird zwar nicht in großen Mengen Stimmen an die FPÖ und MFG verlieren, jedoch ist es nicht unwahrscheinlich, dass viele Sympathisierende am Wahltag zuhause bleiben. Die inhaltliche Leere kann sich früher oder später gerade für eine Kleinpartei wie die NEOS rächen. Hier darf es durchaus ein bisschen mehr tatsächliches und nicht rein rhetorisches gegen-den-Strom-Schwimmen sein. Das baut den Muskelapparat für den Wahlabend auf.

Monolithischer Block statt kreativer Varianz

Das Fazit in puncto Annäherung der Parteien an eine vermutete Mehrheitsmeinung fällt bis auf die FPÖ und MFG in der österreichischen Politlandschaft eher traurig aus. Es fehlt die Kreativität, abseits von eindimensionalen Positionen zu diversen Themen eine differenzierte Linie zu fahren. Hier kommen das Musterschüler-Gen der Spitzenpolitik und die österreichische Seele zu tragen. Von der ÖVP über die SPÖ, Grüne und NEOS findet man aktuell von den dominanten Leitthemen Corona und Ukraine mehr oder minder einen monolithischen Block.

Die Chefin der größten Oppositionspartei, Pamela Rendi-Wagner, ist nicht durch große Visionen oder vom vermuteten Meinungsmittelwert abweichenden Standpunkte, sondern eher durch eine Überanpassung aufgefallen. Etwas mehr an Mut zur eigenen Position wäre hier im Sinne der Profilschärfung vorteilhaft. Das gilt ebenfalls für die Chefin der NEOS. Die neue alte ÖVP hat wiederum quasi in ihrer DNA die Anpassung als lebenserhaltendes Substrat. Von der anfänglich dezenten Willkommenskultur bis hin zur Schließung von Flüchtlingsrouten, reicht die Bandbreite und Wandlungsfähigkeit, die sich je nach Meinungsforschungsresultaten wahrscheinlich gleichermaßen bei den Themen Corona und Ukraine zeigen kann. Die Grünen wurden leider, so wie es momentan aussieht, gleichfalls durch die Regierungsbeteiligung ihrer kreativen Varianz beraubt.

Wie besagt ein japanisches Sprichwort so schön: "Deru kugi wa utareru" - "Der herausstehende Nagel wird eingeschlagen." Ob derartige fernöstliche Philosophien ebenfalls auf Österreich zutreffen, wird man bei den kommenden Bundespräsidentenwahlen sehen. Diese werden der erste starke Indikator sein, wieweit die Österreicher und Österreicherinnen mit der aktuellen Politik zufrieden sind. Faktoren wie unter anderem die hohe Inflation und Energiekosten können zu wahren "Game Changern" werden. (Daniel Witzeling, 29.7.2022)

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