"Wo in Paris die Sonne aufgeht" (im Original: "Les Olympiades") verwebt die romantischen Irrwege vier Sinnsuchender. Die Mittdreißiger Camille, Nora, Émilie und Amber Sweet leben im grauen 13. Arrondissement "Les Olympiades". Fernab vom Klischee der Stadt der Liebe ragen kalte Betonwohnblöcke in den dunklen Himmel des ehemaligen Pariser Industrievororts.

"Ich sehe sogar die Seine", ruft Nora (fantastisch vielschichtig: Noémie Merlant) entzückt, als sie ihr winziges Apartment bezieht, in dem sie Wasserschäden selbst repariert, um Kosten zu sparen. Sie glaubt an eine rosige Zukunft an der renommierten Sorbonne. Ihre Mitstudierenden sehen in ihr allerdings Ähnlichkeiten mit der Pornodarstellerin Amber Sweet (Jehnny Beth). Das Cybermobbing startet, Nora schmeißt ihr Studium. Einen Job bekommt sie in der Immobilienagentur, die Frauenheld Camille (Makita Samba) interimistisch führt. Er wechselt Berufe und Freundinnen wie andere ihre Socken. Camille findet die geheimnisvolle Nora sofort anziehend.

Erfrischend unromantisch!
Foto: © Filmladen Filmverleih

Die Flucht in Gelegenheitstechtelmechtel haben Camille ("Ich kompensiere meine berufliche Frustration mit intensiver sexueller Aktivität") und seine Ex-Liebhaberin Émilie (Newcomerin Lucie Zhang) gemeinsam. Beide möchten sich weder mit der Endlichkeit des Lebens noch mit ihren Bedürfnissen auseinandersetzen. Sich einzugestehen, was man will, würde ja bedeuten, es verlieren zu können.

Nora schläft mittlerweile mit dem Camgirl Amber Sweet (ein), mit der sie eine Online-Freundschaft verbindet – zwar in getrennten Apartments, aber die Skype-Verbindung bleibt aufrecht. Niemand will allein aufwachen.

Überraschend empathisches Werk eines "Macho"-Regisseurs

Der neue Film des Regisseurs Jacques Audiard behandelt alltägliche, aber nicht minder große Themen: Identität, Liebe, Freundschaft und das Internet, das die Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen unwiderruflich verändert hat. Der fast Siebzigjährige, üblicherweise für seine maskulinen Werke bekannt, hatte für das feinfühlige Porträt der modernen Liebesgeschichten Unterstützung. Die Co-Autorinnen Céline Sciamma ("Porträt einer jungen Frau in Flammen") und Léa Mysius ("Ava") sorgen für lebensnahe Dialoge. Kameramann Paul Guilhaume unterstreicht mit Schwarzweißaufnahmen die monochrome Lebensrealität der Menschen in den anonymen Wohnblocks des Pariser Randbezirks. Der elektrische Soundtrack von Clément Ducol und Rone vermittelt das widersprüchliche Lebensgefühl der jungen Erwachsenen in einer grauen Großstadtwelt, in der Sex und Drogen für Endorphinkicks sorgen.

"Wo in Paris die Sonne aufgeht" ist erfrischend unromantisch. Lose an Graphic-Novel-Kurzgeschichten des New Yorkers Adrian Tomine angelehnt, verspricht der Film wahrhaftige Liebe, die über schnellen Sex hinausgeht – wenn man sich darauf einlässt. Tiefe Gefühle im hässlichsten Viertel von Paris. Wer braucht schon den Eiffelturm, wenn es Tinder gibt? (Annina Bottesch, 21.4.2022)