"Der beste Arzt", um 1901.

Foto: Eberhard Spangenberg, München/Bildrecht, Wien 2022

Eine riesenhafte Allegorie des Krieges hebt den Fuß, um eine ganze Armee einzustampfen; ein schmächtiger Tod kann sich kaum auf dem Pferd halten, auf dem er herbeireitet; der Mensch an sich rast auf den Bahnen des Schicksals entlang, wehr- und willenlos. Die dunklen Wände, auf denen die hauptsächlich schwarz-weißen Grafiken Alfred Kubins in Reih und Glied hängen, tun zur herrlichen Doom-and-Gloom-Stimmung der großen Frühlingsschau im Leopold-Museum ihr Übriges.

"Der Mensch", um 1902
Foto: Eberhard Spangenberg, München/Bildrecht, Wien 2022

Nicht chronologisch, sondern thematisch brachte Direktor und Kurator Hans-Peter Wipplinger Ordnung in die rund 250 Werke, die dort zu sehen sind. Das sind nicht nur die Grafiken Kubins mit Fokus auf sein Frühwerk, sondern auch Werke seiner Zeitgenossen wie Munch und Ensor sowie Inspirationsquellen wie Goya, von dem Kubin auch Blätter besaß.

Die einzelnen Räume tragen Namen wie "Traumwelten", "Projektionen männlicher Allmacht" oder "Ich ist ein anderer". Wer hier Psychoanalyse riecht, liegt goldrichtig. "Bei Kubin kann man Künstler und Werk nicht trennen", sagt Wipplinger, während er auf einen fliegenden Penis in einer Zeichnung zeigt. Die Faxen, die sein "Wurm", wie Kubin sein Glied nannte, machte oder besser: nicht machte, verdrossen den Künstler, erzählt der Kurator.

So verwundert es nicht, dass der kastrierte Flug-Phallus (in: Die Spinne, 1901/02) eigentlich ganz fidel wirkt, so völlig losgelöst von einem ungesunden Körper, in dem auch sicher kein gesunder Geist wohnt.

So kann man das jedenfalls lesen, wenn man den fantastischen Grafiker auf die Couch legt, wie Wipplinger es in der Schau tut. Für dieses Unterfangen holte er sich Unterstützung vom österreichischen Psychoanalytiker August Ruhs, der in seinem Katalogbeitrag Folgendes schreibt: "Man könnte meinen, dass der Zeitgeist als impulsgebender Faktor weit weniger wirksam war als seine (i.e. Kubins) individuelle seelische Verfassung, geprägt von den Unheimlichkeiten re-aktualisierter Erinnerungen und illusionärer Heimsuchungen ..."

Traumatische Erlebnisse

Konkret geht es um Kubins Kindheit. Die Mutter des 1877 Geborenen verstarb früh; Kubin erinnert sich in seiner Schrift Dämonen und Nachtgesichte. Mit einer Selbstdarstellung des Künstlers daran, dass sein verzweifelter Vater mit der Leiche in den Armen durch die Wohnung lief. Auch von einem sexuellen Übergriff berichtet Kubin, den er im Alter von elf Jahren durch eine ältere Frau erlitten haben soll. Traumatische Erlebnisse also, die die Ausstellung allzu gerne dazu nutzt, Kubins gezeichnete "Dämonisierung des Weiblichen", wie es dort heißt, zu rechtfertigen.

"Die Dame auf dem Pferd", um 1900/01
Foto: Eberhard Spangenberg, München/Bildrecht, Wien 2022

Ein großer Teil der Ausstellung widmet sich nämlich genau diesen Bildern: Man sieht vergewaltigte und vergewaltigende Frauen, erhängte Frauen, Frauen mit verzerrten Fratzen als Schlangen, Katzen, und Sphingen, Frauen, die der Tod sind oder die ihn gebären.

Kubins ganz offensichtliche Misogynie – denn da ist nur nicht viel Angst, sondern auch eine ordentliche Prise Hass – damit zu entschuldigen, dass der Künstler schwer traumatisiert und die Zeitgenossen auch nicht besser waren: come on.

Auch der Untertitel der Schau Bekenntnisse einer gequälten Seele stellt Kubin als Opfer etwas pathetisch in den Vordergrund. Trotz seiner Hypochondrie, der Selbstzweifel und der empfundenen Geworfenheit war er durchaus berechnend: "Nehmen Sie mir nicht meine Angst. Sie ist mein einziges Kapital", soll Kubin so oder so ähnlich an seinem Sterbebett gesagt haben.

"Das Rattenhaus", 1902
Foto: Eberhard Spangenberg, München/Bildrecht, Wien 2022

Bereits zu Lebzeiten verdiente er gut, zeichnete sich also nicht nur therapeutisch die Dämonen und Albträume vom Leib, sondern wusste auch den Geschmack seiner Käufer zu bedienen. So schwarz-weiß wie seine Grafiken war Kubins Leben jedenfalls nicht.

Facettenreiches Werk

Gelungen ist diese umfassende Schau trotzdem allemal, was vor allem an der unglaublichen Qualität der Blätter liegt, die zu großen Teilen aus der eigenen Sammlung des Leopold-Museums stammen. Die Kontextualisierung mit den Zeitgenossen und Vorbildern lässt oft über Kubins unglaubliches Talent, vor allem aber über den Facettenreichtum seines Werks staunen.

"Das Grausen", um 1902
Foto: Eberhard Spangenberg, München/Bildrecht, Wien 2022

Da zeichnet sich im wahrsten Sinne des Wortes manchmal schon der Surrealismus ab, andere Arbeiten haben gar abstrakte Qualitäten. Kubins Pest- und Kriegsdarstellungen sorgen auch noch heute verlässlich für Grauen. Leicht anzuschauen ist das oft wirklich nicht, aber es ist immer sehenswert. (Amira Ben Saoud, 20.4.2022)