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Im Mariupoler Stahlwerk Asow-Stahl harren weiterhin hunderte ukrainische Soldaten und Zivilisten aus.

Foto: REUTERS/Alexander Ermochenko

An Dramatik war der Appell, den die im Mariupoler Stahlwerk Asow-Stahl eingeschlossenen ukrainischen Soldaten am Mittwoch an die Welt richteten, kaum zu übertreffen: "Der Feind ist uns zehn zu eins überlegen", sagte Serhij Wolyna, der Kommandant der ukrainischen 36. Marineinfanteriebrigade, in seiner auf Facebook veröffentlichten einminütigen Videobotschaft. "Wir appellieren an alle führenden Politiker der Welt, uns zu helfen." Die Soldaten, mehr als 500 verwundete Kämpfer und hunderte Zivilistinnen und Zivilisten sollten per Helikopter oder Schiff evakuiert werden, sagte Wolyna dem Sender CNN. Und er schloss mit einer düsteren Prognose: "Das ist unser Appell an die Welt. Das könnte der letzte Appell unseres Lebens sein."

"Das sind wohl unsere letzten Stunden", erklärt Serhij Wolyna in einer Videobotschaft.

DER STANDARD

Auch die Situation der in der Stadt verbliebenen Bevölkerung wird angesichts des nahenden russischen Großangriffs immer verzweifelter. 100.000 der zu Friedenszeiten mehr als 400.000 Bewohnerinnen und Bewohner befinden sich laut Bürgermeister Wadym Boischenko noch in der Stadt. Am Mittwoch hat die Ukraine nach eigenen Angaben mit Russland eine vorläufige Vereinbarung über die Einrichtung eines Fluchtkorridors für mehr als 6000 Frauen, Kinder und ältere Menschen aus der umkämpften Hafenstadt erzielt. Ob die Feuerpause halten wird, war unklar.

Das ukrainische Asow-Regiment, das sich in das Asow-Stahlwerk zurückgezogen hat, berichtete, dass das Stahlwerk durch schwere Bombardierungen praktisch komplett zerstört wurde, viele Menschen seien unter den Trümmern begraben worden. "Wir ziehen Menschen aus dem Schutt", sagte ein Sprecher. Zugleich betonte er, dass die Verteidiger "bis zur letzten Patrone" kämpfen werden.

EU-Ratspräsident verspricht in Kiew mehr Geld für Waffen

Unterdessen berichtete die Ukraine von einem massiven russischen Truppenaufmarsch im Osten des Landes. "Jetzt ist praktisch der gesamte kampfbereite Teil der russischen Armee auf dem Territorium unseres Staates und in den Grenzgebieten Russlands konzentriert", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in der Nacht auf Mittwoch in einer neuen Videobotschaft. Russland habe "fast alle und alles, was fähig ist, mit uns zu kämpfen, zusammengetrieben", sagte Selenskyj.

Am Mittwoch wurde EU-Ratspräsident Charles Michel in Kiew empfangen. "Im Herzen eines freien und demokratischen Europa", twitterte der Belgier nach seiner – nicht angekündigten – Ankunft am Bahnhof der ukrainischen Hauptstadt. Michel besuchte den zerstörten Kiewer Vorort Borodjanka und hat am Mittwochnachmittag auch Präsident Selenskyj getroffen. Michel gab bekannt, die Ukraine mit weiteren 1,5 Milliarden Euro an Militärhilfe unterstützen zu wollen.

Mehr als 1000 Militärobjekte beschossen

Die russische Armee setzte unterdessen ihren Großangriff auf die Ostukraine fort. In der Nacht auf Mittwoch flog die Luftwaffe Angriffe auf 73 militärische Ziele im Gebiet Nowoworonzowka und Kiseliwka, wie der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums erklärte. Zudem hätten die russischen Raketenstreitkräfte und die Artillerie auch 1053 Militärobjekte beschossen. Angaben über den Stand der russischen Bodenoffensive machte Moskau nicht.

Dem britischen Geheimdienst zufolge zielen die russischen Angriffe derzeit vor allem darauf ab, die ukrainischen Verteidiger von ihren Nachschublinien abzuschneiden und Truppenverlegungen in den Osten des Landes zu verlangsamen. Auch deshalb forderte Selenskyj am Mittwoch abermals Waffen.

Im ostukrainischen Donbass, dessen "Befreiung" Wladimir Putin als primäres Ziel seiner "Spezialoperation" definiert hatte, beobachte das britische Verteidigungsministerium eine Intensivierung der Kämpfe durch russische Versuche, die ukrainischen Verteidigungslinien zu durchbrechen. Die Aktivitäten der russischen Luftwaffe in der Region Kiew bleiben nach Einschätzung Londons hingegen weiterhin gering. Mit einzelnen präzisen Luftschlägen auf wichtige Ziele sei aber im ganzen Land zu rechnen, hieß es.

Schriftliches Angebot an Kiew

Russland hat der Ukraine nach eigenen Angaben ein schriftliches Angebot für eine Verhandlungslösung im Krieg übergeben. "Jetzt wurde der ukrainischen Seite unser Entwurf des Dokuments übergeben, der absolut klare und ausgefeilte Formulierungen beinhaltet", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Mittwoch. Details zum Inhalt der russischen Vorschläge gab er nicht an. Eine Frist, bis wann Kiew auf das Angebot antworten müsse, gebe es nicht, betonte Peskow. Dass Moskaus "Entwurf" den Krieg beendet, dürfte freilich niemand so recht glauben. (Florian Niederndorfer, 20.4.2022)