Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Mitte) machte sich vergangene Woche ein Bild von der Lage in Mali. Im kommenden Monat soll der Bundestag über die Verlängerung des Einsatzes von mehr als 1000 Bundeswehrsoldaten entscheiden.

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Ali* spricht leise, aber bestimmt und ohne zu stocken. "Ich weiß nicht, wie viele sie getötet haben", sagt der 40-jährige Farmer aus Moura. "Vielleicht waren es 200. Es könnten aber auch 400 oder sogar 600 gewesen sein." Er habe versucht, die Schüsse zu zählen, mit denen die Soldaten ausgesonderte Männer exekutierten. "Aber bei dem Gedanken, dass womöglich gerade jemand dran war, den ich kannte, geriet ich völlig durcheinander."

Dass der Zeuge des jüngsten und bislang schlimmsten Massakers in der jüngeren Geschichte des westafrikanischen Unruhestaats Mali bei seiner Schilderung absichtlich übertreibt, ist unwahrscheinlich. Denn Ali hat gegen die Hinrichtung der angeblichen Jihadisten durch malische Soldaten und ihre russischen Helfer gar nichts einzuwenden. "Sie haben uns jahrelang schikaniert", sagt der Vater von vier Kindern. "Die Jihadisten haben es nicht anders verdient."

Während das ukrainische Butscha weltweit zum Inbegriff soldatischer Grausamkeiten wurde, bleibt Moura dieser zweifelhafte Ruhm erspart – obwohl die kaltblütige Vorgehensweise und die Zahl der Opfer in dem Städtchen am Nigerfluss mit denen im Vorort Kiews durchaus vergleichbar sind.

Verständigung mit Zeichen

Zufällig fanden die beiden Gräueltaten auch beinahe am selben Tag statt. Ali hatte sich am Sonntag, dem 27. März, auf den Wochenmarkt in Mousa begeben, als er gegen elf Uhr den Lärm von Hubschraubern hörte. Gleich sechs seien am Himmel aufgetaucht, erzählt der Farmer. Sie seien schließlich an verschiedenen Enden des Städtchens gelandet. Aus dem Hubschrauber, den er sah, seien Männer mit bleichen Gesichtern gesprungen: "Sie fingen sofort zu schießen an."

Näheres über die Identität der hellhäutigen Kämpfer kann Ali nicht sagen – er sei so schnell wie möglich nach Hause gerannt. Später habe er jedoch beobachtet, dass sich die fremden und die malischen Soldaten nicht mit Worten, sondern mit Zeichen verständigten. Alles spricht dafür, dass es sich bei den hellhäutigen Kämpfern um Mitglieder der russischen Wagner-Truppe handelte.

Malis Regierung bestreitet beharrlich die Präsenz der Söldner im Land, auch die Verantwortlichen der UN-Mission Minusma halten sich noch immer bedeckt. "Wir müssen vorsichtig sein", sagt die stellvertretende Chefin der Mission, Daniela Kroslak. Eigentlich sollte ein UN-Team zur Untersuchung der Vorgänge nach Moura geschickt werden. Doch die Regierung verweigerte das – schlechte Voraussetzungen für die im kommenden Monat in Deutschland anstehende Entscheidung über die Verlängerung des Einsatzes von mehr als 1.000 Bundeswehrsoldaten in Mali. Selbst deren Offiziere fragen sich, wie sie mit Streitkräften zusammenarbeiten sollen, die gemeinsam mit russischen Söldnern die eigene Bevölkerung massakrieren.

Männer zusammengetrieben

Ali trägt einen zweiteiligen Boubou, das traditionelle Gewand westafrikanischer Männer, und hat um seinen Kopf ein rot-weißes Palästinensertuch geschlungen. Seine mächtige Armbanduhr aus falschem Gold und ein silberner Ring an seinem Mittelfinger lassen darauf schließen, dass der Angehörige des Fulani-Volks nicht am Hungertuch nagt. Sein archaisches Handy markiert allerdings die Grenze seines Wohlstands.

Als die Söldner schießend aus den Helikoptern sprangen, hätten die Moura schon seit Jahren beherrschenden Jihadisten das Feuer erwidert, fährt Ali fort. Bis tief in die Nacht zum Montag hinein seien immer wieder Feuergefechte aufgeflammt. Tags darauf sei es ruhiger geworden, doch dann zogen Soldaten mit Megafonen durch das rund 10.000 Einwohner zählende Städtchen und forderten alle männlichen Bewohner auf, sich am Wasser zu versammeln.

Moura liegt in einer der wohl fruchtbarsten Regionen des Landes: im Binnendelta des Niger-Flusses. Das eine Million Quadratkilometer große Feuchtgebiet wird schon seit Jahrhunderten von unterschiedlichen ethnischen Gruppen bewohnt: Die Bozo gehen der Fischerei, die Donzo der Jagd, die Bambara der Landwirtschaft und die Fulani der Viehzucht nach. Um sich das labile und in der Trocken- und Regenzeit völlig unterschiedliche Biotop teilen zu können, hatten seine Bewohner Regeln zu seiner Nutzung ausgetüftelt, die allerdings – erst von französischen Kolonialherrn und dann von der Elite des unabhängig gewordenen Staates – durcheinandergebracht wurden.

"Selektion" nach Kleidung und Bart

Beide hätten den Reisanbau begünstigt und ihr nomadisches Leben an den Rand gedrängt, klagen die Fulani – ein Trend, der von den Klimaänderungen der vergangenen Jahrzehnte noch verschlimmert wurde. Mit den Klagen der Fulani nahm auch ihre Bereitschaft zur Gewalt zu – eine willkommene Gelegenheit für die aus Nordafrika ins Land eingesickerten Extremisten. Fast das gesamte Binnendelta, die Macina, wird seit Jahren von Mitgliedern der vom Prediger Hamadoun Kouffa gegründeten Gruppe Katiba Macina beherrscht. Sie hat sich mit Al Kaida im Maghreb verbündet. Für viele Malier ist "Fulani" und "Jihadist" inzwischen ein Synonym.

Zum Leidwesen Alis, der mit den jungen Extremisten nichts zu tun haben will. Sie versuchten anderen vorzuschreiben, was sie zu glauben, wann sie zu beten und wie sie sich anzuziehen hätten – Frauen verschleiert und Männer mit Hosen, die nicht die Knöchel bedecken. Nun wurde den Jihadisten in Moura ihr unverkennbarer Stil zum Verhängnis: Nachdem die Soldaten im Lauf des Montags alle Männer des Städtchens zusammengetrieben hatten, sortierten sie die Vollbartträger mit den abgeschnittenen Hosenbeinen aus.

Ali hatte das Glück, in der größeren Gruppe zu enden. Sie mussten die kommenden drei Tage von Soldaten bewacht in der prallen Sonne am Rand des Wassers verbringen. Hin und wieder kamen Frauen aus dem Dorf, um den Festgesetzten Wasser und Essen zu bringen. Die Jihadisten seien dagegen auf ein Feld hinter dem Friedhof geführt worden, berichtet Ali. Von dort seien immer wieder einzelne Schüsse zu hören gewesen – jeder habe gewusst, was vor sich ging.

Verbrannte Leichen

Bevor die Soldaten am Donnerstag genauso plötzlich verschwanden, wie sie gekommen waren, habe ihr Kommandant noch eine Ansprache an die festgenommenen Männer gehalten, fährt Ali fort. Darin habe er sich mehrmals für die Vorgänge der vergangenen Tage entschuldigt. Während der Farmer nach seiner Freilassung sofort nach Hause ging, schauten sich andere das Feld hinter dem Friedhof an. Auf diesem sollen dutzende verkohlte Leichen gelegen sein, viele von ihnen mit gefesselten Händen. Warum die Soldaten ihre Opfer nach der Hinrichtung angezündet haben, weiß auch Ali nicht zu sagen. "Vielleicht zur Abschreckung", rätselt er. Im Internet kursieren Bilder der verkohlten Leichen.

Ali kratzte sein Geld zusammen, um Moura verlassen zu können. "Stark traumatisiert" suchte er zunächst Zuflucht in der knapp 40 Kilometer entfernten Provinzhauptstadt Mopti, die von Blauhelmen aus dem Senegal bewacht wird. Von Mopti aus machte er sich auf den Weg in die Hauptstadt Bamako, wo wir ihn auf einem Viehmarkt treffen, den sich hunderte Vertriebene seit Jahren mit zum Verkauf angebotenen Tieren teilen. Gehege, in denen sich abgemagerte Kühe, riesige Widder oder Esel drängeln, wechseln sich mit den notdürftig errichteten Hütten der Vertriebenen ab. Immer wieder werden Alis Worte vom Kikeriki eines Hahns, dem Blöken eines Schafes oder dem Meckern eines Ziegenbocks übertönt.

Noch während des Gesprächs klingelt Alis vorsintflutliches Telefon. Er erfährt, dass einer seiner Neffen gestern in Moura umgebracht wurde. Das Entsetzen des Onkels hält sich in Grenzen: Der ums Leben Gekommene soll ein Jihadist gewesen sein. Im Gegenzug wurde Mouras stellvertretender Bürgermeister von Jihadisten ermordet. Die Spirale der Gewalt dreht sich auch nach dem Massaker weiter.

"Terroristen neutralisiert"

Malis Regierung räumt ein, bei der "Militäraktion" in Moura 203 Menschen "neutralisiert" zu haben – ausschließlich "Terroristen", von zivilen Opfern ist ebenso wenig die Rede wie von Exekutionen. Bei der Lösung der zunehmenden Probleme des Landes setze Bamako ausschließlich auf militärische Mittel, klagt Minusma-Vizechefin Kroslak. Zweifellos werden die Obristen darin auch von den russischen Söldnern bestärkt, die für ihre Bezahlung von zehn Millionen US-Dollar im Monat schnelle Erfolge vorweisen wollen – auf welche Weise ihre vermeintlichen Siege auch immer zustande kommen.

Dass der "Terrorismus" – vor allem wenn es sich um ein derart kompliziertes Geflecht wie in Mali handelt – nicht mit militärischen Mitteln besiegt werden kann, diese Erkenntnis mag sich inzwischen in aller Welt herumgesprochen haben. Nur in Mali nicht. Das muss bei der Entscheidung über die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes eine Rolle spielen. (Johannes Dieterich aus Bamako, 21.4.2022)