Bei Demonstrationen wird der Rücktritt von Premier Boris Johnson gefordert. Trotz Kritik an seinem Verhalten kann er sich vorerst dennoch im Amt halten.

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Nach Indien wollte Boris Johnson schon im vergangenen Frühjahr. Am Donnerstag hat der konservative Regierungschef den Trip nachgeholt – ausgerechnet an jenem Tag, an dem das Unterhaus in London über eine parlamentarische Untersuchung der Lockdown-Partys in Downing Street Nummer zehn beriet. Konkret ging es um die Frage, ob Johnson das Parlament belogen hat, als er im Dezember die vielfältigen Feiern zunächst leugnete, später als erweiterte Arbeitstreffen abtat. Darüber soll ein Ausschuss beraten, sobald die Londoner Kripo ihre Ermittlungen beendet hat.

Zwölf Events unterliegen der Untersuchung durch Scotland Yard, bei einem liegt das Ergebnis bereits vor: Eine Feier zu Johnsons 56. Geburtstag im Juni 2020 hätte nicht stattfinden dürfen. Die Teilnehmer, darunter der Premier selbst, dessen Gattin Carrie sowie Finanzminister Rishi Sunak, erhielten Zahlungsbefehle über je 50 Pfund (60,05 Euro). Wer wie die Betroffenen prompt bezahlt, räumt einen Rechtsbruch ein, gilt aber nicht als vorbestraft.

Kaum jemand glaubt dem Premier

Dass Johnson nicht von sich aus zurücktritt, empört viele Fachleute. Der führende Historiker Lord Peter Hennessy spricht von einer "ernsten Verfassungskrise". Einer Yougov-Umfrage zufolge halten 78 Prozent der Briten ihren Premier für einen Lügner. 66 Prozent sind sich sicher, dass er seine zwischenzeitlich vorgetragenen Entschuldigungen nicht ernst meint. Einen polizeilich bestätigten Rechtsbrecher hat es in der Downing Street noch nicht gegeben. Freilich mussten sich frühere Bewohner, darunter allerlei korrupte Taugenichtse, nicht an heutigen Maßstäben messen lassen.

Vier Faktoren sprechen dafür, dass der 57-Jährige im Amt bleibt. Unter den bekanntgewordenen Lockdown-Partys gehört der kurze Happy-Birthday-Gesang zu den vergleichsweise unbedeutenden. Das Königreich befindet sich, zweitens, im Wahlkampf für bedeutende kommunale und regionale Urnengänge. Viele Tories setzen deshalb auf innerparteiliche Geschlossenheit. Gehen die Wahlen Anfang Mai verheerend schlecht aus, können sie allemal Johnson die Schuld geben.

Kein Tausch im Krieg

Zudem sehen viele Konservative, drittens, keine glaubwürdige Alternative. Favorit Sunak ist durch das Bußgeld sowie seine Fiskalpolitik selbst beschädigt, Außenministerin Liz Truss gilt als zu selbstverliebt, den früheren Außen- und Gesundheitsressortchef Jeremy Hunt hat das Parteivolk, das über die Nachfolge entscheidet, schon einmal abblitzen lassen.

Last, not least hat sich Johnson durch demonstrative Geschlossenheit mit Präsident Wolodymyr Selenskyj sowie unermüdliche Waffenlieferungen als engster westeuropäischer Verbündeter der Ukraine profiliert. Mitten im Krieg wechsle man nicht den Premierminister, argumentieren seine Verteidiger. Dabei lassen sie außer Acht, dass sowohl im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg die damals selbst beteiligte Insel den Regierungschef stürzte, ohne dass dabei ihre Kampfkraft gelitten hätte.

Schwerer wiegt wohl: Noch gibt es im Land keine echte Wechselstimmung, Labours Parteichef Keir Starmer vermag die Menschen nicht zu begeistern. Bis auf weiteres also Johnson, mit zwei Einschränkungen: Scotland Yard könnte weitere Bußgelder erheben und den Premier damit zum Serientäter stempeln. Vor allem aber hat das Wahlvolk das letzte Wort. Erhalten die Tories in vierzehn Tagen die prognostizierte schallende Ohrfeige, würde sich die Stimmung der Konservativen rasch gegen ihren Chef wenden. (Sebastian Borger aus London, 21.4.2022)