Im Gastbeitrag fragt Politikwissenschafterin Malwina Talik, was die Pegasus-Enthüllungen über den Stand der Demokratie in Polen sagen.

Terroranschläge verhindern und organisierte Gewalt aufdecken – offiziell nur für diese Anwendung und nur an Regierungen und Geheimdienste verkauft die israelische NSO-Gruppe ihre mächtige Spionagesoftware “Pegasus”. Vor allem in autokratischen Ländern wurde dieser Trojaner als politische Waffe missbraucht, aber auch manche demokratischen Staaten schreckten nicht davor zurück, Regierungskritiker und Regierungskritikerinnen ins Visier zu nehmen. 

Pegasus als demokratisches Frühwarnsystem?

Wenn Überwachungsprogramme zu einer politischen Waffe werden, ist es oft ein Anzeichen dafür, dass wahrscheinlich auch andere Missbräuche passieren. Manche Experten und Expertinnen, wie John Scott-Railton vom Citizen Lab an der Universität Toronto, sehen in „Pegasus“ daher ein Frühwarnsystem, das auf die voranschreitende Erosion demokratischer Institutionen und Werte hinweist. Die Macht, die Pegasus bietet, ist verlockend: Spuren hinterlässt es wenige, unbemerkt kann es nicht nur alle Inhalte eines Handys, inklusive verschlüsselter Nachrichten und Passwörter, durchsuchen, übertragen und modifizieren, sondern auch das Mikrofon und die Kamera aktivieren. All das zu einem hohen Preis, weil Pegasus-Lizenzen Millionen Euro kosten. Für eine Massenüberwachung ist die Softwarte also nicht geeignet. Die vom „Project Pegasus“ im Juli 2021 veröffentlichte Enthüllungen veranschaulichten das dennoch hohe Ausmaß der illegalen Überwachungen von hunderten Oppositionellen, Journalisten, Journalisten und Aktivistinnen und Aktivisten, vor allem in autokratischen Staaten. Bestätigt wurden aber auch mehrere Fälle in Ungarn, in anderen EU-Ländern fehlte es damals noch an greifbaren Beweisen.

Cybersecurity-Experte Scott-Railton bei einer Befragung vor dem polnischen Senat zu "Pegasus".
Foto: AP Photo/Czarek Sokolowski

Enthüllungen der “polnischen Watergate-Affäre”

Es war ein offenes Geheimnis, dass auch polnische Geheimdienste Pegasus verwenden. Citizen Lab zufolge waren die ersten Spuren im Jahr 2017 zu beobachten. Die Oberste Kontrollkammer Polens (Narodowa Izba Kontroli - NIK) wies 2019 auf einen „Kauf von Mitteln für spezielle Technologie zur Aufdeckung und Vorbeugung von Straftaten“ hin, der 33 Millionen PLN kostete und zum Teil mit Mitteln von einem dafür zweckfremden Budget (Unterstützung von Opfern von Verbrechen) bezahlt wurde. Auffällig war auch, dass die NSO-Gruppe Polen im Herbst 2021 die Pegasus-Lizenz Polen entzog, ähnlich wie Ungarn, Mexiko, Saudi-Arabien und weiteren 65 Staaten.

Ende November wurde publik, dass mehrere Kundinnen und Kunden von Apple durch Angriffe mit Pegasus betroffen waren, darunter die polnische Staatsanwältin Ewa Wrzosek, die heftige Kritik an den durch die PiS-Regierung durchgeführte Justizreformen geübt hatte. Der Rechtsanwalt und ehemalige Innenminister Roman Giertych wurde ebenfalls überwacht. Das eigentliche Ziel der 18 Angriffe 2019 war jedoch wahrscheinlich Donald Tusk, ehemaliger Vorsitzender der größten oppositionellen Partei Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO), den Giertych in mehreren Gerichtsverfahren vertrat. In jener Zeit war dieser auch Anwalt eines österreichischen Unternehmers, der vom PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski betrogen werden sollte. Eine der am intensivsten ausspionierten Personen war Krzysztof Brejza, 2019 Wahlkampfchef der PO. Belauscht wurde nicht nur er selbst, sondern auch sein Umfeld. Dem Profil eines „Terroristen“ oder „Kriminellen“, wie der Anspruch der Verhinderung von Straftaten suggerieren würde, entsprach niemand der durch die Spyware Betroffenen.

Lizenz zum Überwachen

PiS spielte die Enthüllungen lange Zeit als „Fake News“ herunter. Erst am 7. Jänner räumte Jaroslaw Kaczynski ein, dass Polen Pegasus verwendete, nicht jedoch, dass es rechtswidrig eingesetzt worden war. Bald meldeten sich weitere Überwachte Personen. Manche PiS-Abgeordnete wollten wissen, ob auch sie abgehört wurden.

Heute ist bekannt, dass die Pegasus-Lizenzen nach dem Treffen zwischen Ministerpräsidentin Beata Szydło mit Benjamin Netanjahu während des V4-Gipfels 2017 erworben worden waren. Sie wurden aus dem oben genannten Budget bezahlt, Abgeordnete stimmten dem zu, ohne zu wissen, worum es sich handelte. Der Vertrag wurde damals von unerfahrenen Beamten und Beamtinnen unterschrieben, die als informelle Vertretung von Justizminister Zbigniew Ziobro und dem damaligen Geheimdienstkoordinator Mariusz Kamiński galten. Ähnlich wie die Abgeordneten, war den zuständigen Richtern und Richterinnen oft nicht bewusst, wie weitreichend die Software in die Privatsphäre eingriff.

Pegasus und die Demokratie in Polen

Die Missbräuche von Spionagesoftware ähneln dem Muster, das in öffentlichen Medien und der Staatsanwaltschaft zu beobachten ist: sie werden für eigene politische Zwecke genutzt. Laut Einschätzung von Expertinnen und Experten ist es vor allem der Mangel an Rechtsstaatlichkeit, der ein großes Potenzial für den Missbrauch von Pegasus ermöglicht. Eine der wesentlichsten Fragen, die aus der Affäre hervorgeht, ist, wie legitim die Parlamentswahlen 2019 waren, in denen die PiS mit 43,6 Prozent gewann und das Bürgerbündnis hingegen nur 27,40 Prozent der Stimmen erhielt.

Da Brejza so intensiv ausspioniert wurde, hatten die Geheimdienste Zugang zu vertraulichen Informationen. Auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes strahlte TVP, der von der Regierung kontrollierte öffentliche Sender manipulierte und mit illegalen Mitteln gewonnene SMS aus Brejzas Handy aus. Wie bei der Watergate-Affäre drängt sich die Frage auf: Was hat der Präsident und insbesondere das Umfeld von Vize-Premier Kaczyński darüber gewusst? Laut Wojciech Hermeliński, 2019 Vorsitzender der staatlichen Wahlkommission, könnte das Ausspionieren von Brejza das Wahlergebnis tatsächlich beeinflusst haben. Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz erschweren zudem eine Aufklärung.

Ewa Wrzosek stellte letztlich keine Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft, aus Angst, dass Beweise beschädigt oder verloren gehen könnten. Sie weigerte sich, ihr Handy für Untersuchungen auszuhändigen, solange die Ermittlungen nicht begonnen haben — und die polnische Staatsanwaltschaft hat bis Ende März keine aufgenommen.

Wie wird das „Polnische Watergate“ enden?

Anders als in Ungarn führte das „Pegasus-Gate“ nicht zu großen Demonstrationen in Polen. Viele Menschen glauben nicht, dass die Affäre sich auf ihren Alltag auswirken kann. Unter den politischen Eliten, sowohl in der Opposition als auch zum Teil in der PiS-Partei, kam es aber durchaus zu Konsequenzen. Ein Ausschuss ermittelte im Senat (Obere Kammer). Es gab auch eine Initiative, einen Untersuchungsausschuss im Sejm (Untere Kammer) einzurichten, der die Vorgänge seit 2005 und damit auch mögliche Missbräuche der Vorgängerregierungen untersuchen soll. Auch die EU wird einen Untersuchungsausschuss einrichten, der die Verwendung von „Pegasus und vergleichbarer Überwachungs-Spionagesoftware“ untersuchen wird.

Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine trat das Thema in den Hintergrund und es besteht die Gefahr, dass es ganz in Vergessenheit gerät. Allerdings haben auch die Ermittlungen zur Watergate-Affäre zwei Jahre gedauert, bevor US-Präsident Nixon zurücktrat. (Malwina Talik, 2.5.2022)

Malwina Talik ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM).

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