Auf Sicht fahren: Mehr lässt die Wirtschaft in der Ukraine nicht zu.

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Wien – "Wir versuchen, trotz Krieges unsere Leute weiter zu beschäftigten und unser Unternehmen am Leben zu erhalten. Wir müssen weitermachen. Derzeit bin ich jedoch Flüchtling im eigenen Land." Nils Grolitsch lebt seit 20 Jahren in der Ukraine. Im Februar reiste der Kärntner mit seiner Familie auf Rat eines Freundes zurück nach Österreich. Eine Woche später fielen die ersten Bomben auf Zhytomyr.

Grolitsch produzierte in der Stadt 120 Kilometer westlich von Kiew mit 1200 Mitarbeitern Bügeltische und Wäscheständer – bis Russlands Präsident Wladimir Putin das Land überfiel. 250 Beschäftigte halten in der Fabrik seither die Stellung.

Logistikketten brachen zusammen. Lieferanten fehlt Rohmaterial, viele sperrten zu. Er selbst könne 60 Prozent der Kunden in Europa nicht länger versorgen, erzählt Grolitsch, der auch Honorarkonsul der Ukraine ist. Als Exporteur erhalte er auf seine Waren keine Mehrwertsteuer zurück. Die Verluste steigen.

Hoffen auf Rückkehr

Um sein Werk an einen sicheren Standort in Europa zu verlegen, dafür sei es zu groß und zu wenig automatisiert. Grolitsch bemüht sich daher nun, von Kärnten aus neue Geschäftsfelder zu entwickeln. Und er will, sobald es die Lage zulässt, zurück in die Ukraine. Zu tun gäbe es für Industrielle in östlichen Ländern genug, sagt er. Europa täte gut daran, mit ihnen näher zusammenzuwachsen. "Die Ukrainer sind offen für Demokratie und friedliebend. Es ist eine aufstrebende Gesellschaft."

Österreichs Wirtschaft ist in der Ukraine mit 1,59 Milliarden Euro investiert und zählt dort gut 200 Niederlassungen. In den vergangenen zwei Monaten hat der Krieg jedoch nahezu alle ökonomischen Regeln des Landes außer Kraft gesetzt.

Mayr-Melnhof erzeugte in Cherkassy im März stark eingeschränkt. Mittlerweile stehen dort alle Anlagen still, da große lokale Abnehmer ihren Betrieb stoppten, berichtet ein Sprecher des Papier- und Kartonriesen auf Anfrage des STANDARD. Die davon betroffenen 200 Beschäftigten würden weiterhin bezahlt.

Temporäre Produktion

Die Agrana fährt ihre Produktion, die nach Kriegsausbruch eingestellt wurde, temporär, abhängig von der Sicherheitslage, hoch, um Aufträge für lokale Kunden zu erfüllen. Aktuell gibt es dem Konzern zufolge nahe seiner Betriebsstätten keine Kampfhandlungen. Die Agrana verarbeitet in Vinnitsa im Südwesten der Ukraine mit 600 Mitarbeitern Früchte für die Molkerei- und Saftindustrie.

Auch der Innviertler Skihersteller Fischer zählt in Mukachevo 600 Arbeitnehmer. 100 unter ihnen wurden in die Armee eingezogen. Man müsse damit rechnen, dass sie der Frontlinie immer näher kämen, sagt Franz Föttinger und spricht von enormen menschlichem Leid. Trotz aller Widrigkeiten bereitet der Fischer-Chef die Produktion 40 Kilometer vor der ungarischen Grenze auf den Vollbetrieb vor. Da in der Region hinter den Karpaten viele Ukrainer Schutz suchten, fehle es nicht an Arbeitskräften, um die Personalausfälle zu kompensieren. Warenströme, Zollabfertigungen und Zahlungsverkehr funktionierten.

Die Auftragsbücher seien voll, betont Föttinger. Der Bedarf an Skiern, der unter der Corona-Krise stark litt, wachse dank vieler Nachzieheffekte weltweit. Die Herausforderung sei, ausreichend Produktionskapazität zu schaffen. Fischer errichtete in der Ukraine die weltweit größte Skifabrik. 2020 fiel sie einem Brand zum Opfer. Der Krieg bremste den Neustart. Um die verlorenen Wochen aufzuholen, fährt das Unternehmen nun am Stammsitz in Ried im Innkreis Zusatzschichten.

Aus Angst davor, Russland Informationen über ihre Produktionen in die Hände zu spielen, halten sich andere Österreicher bei Lageberichten aus der Ukraine bedeckt. Von Sorge um Lagerbestände ist die Rede, von exorbitanten Kosten für Transporte, rationiertem Sprit, fehlendem Bargeld, Lieferungen nur gegen Vorauskasse – vor allem aber von traumatisierten Menschen, die auf einen Waffenstillstand und ein Ende der Bombardements hoffen.

Gefallene Mitarbeiter

Johannes Wareka hält sein Etikettenwerk Marzek in Dnipro seit März in stark reduzierter Form für Systemerhalter wie Molkereien und Trinkwasserabfüller, in Betrieb. Einer seiner 130 Mitarbeiter, ein Familienvater von knapp über 40 Jahren, fiel vor zwei Wochen an der Front in der Ostukraine. "Kind, Frau und Mutter stehen unter Schock."

Wareka berichtet vom Zusammenhalt der Belegschaft, die Geld für Sicherheitsausrüstung der Kollegen in der Armee sammelten, von internationalen Lieferanten, die alles versuchten, um die Infrastruktur im Land zu erhalten, und von Spenden an die Stadt, in der trotz häufigen Fliegeralarms zahlreiche Binnenflüchtlinge Zuflucht suchten.

Seine Familie in Österreich nahm zwei Frauen aus der Ukraine, die mit ihren Haustieren nach einer langen Odyssee am Wiener Hauptbahnhof gestrandet waren, bei sich auf. Es werde zusehends schwierig, hierzulande Unterkünfte für Ukrainer zu finden, sagt er. "Wir gewöhnten uns an den Krieg, doch unsere Motivation zu helfen, darf nicht sinken." (Verena Kainrath, 22.4.2022)