"Ein Unrechtsstaat wie das Dritte Reich ist überhaupt nicht hochverratsfähig." Fritz Bauer gelang in den 1950er-Jahren vor Gericht eine Neubewertung der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944.
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Der August 1965 endete für Fritz Bauer mit einer Enttäuschung. Die Urteile des Landgerichts Frankfurt am Main im größten deutschen Verfahren gegen NS-Verbrecher fielen deutlich milder aus, als Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen, gehofft hatte: Neben sechs lebenslänglichen Freiheitsstrafen gab es auch Zeitstrafen und mehrere Freisprüche für die Angeklagten, allesamt ehemalige SS-Männer, die am industriellen Massenmord im Konzentrationslager Auschwitz mitgewirkt hatten. Der stellvertretende Lagerkommandant Robert Mulka wurde, wie viele andere, lediglich wegen Beihilfe zum Mord verurteilt.

Die Richter teilten Bauers Rechtsauffassung nicht, wonach jeder, der einen Beitrag zum Funktionieren des Vernichtungslagers geleistet hat, für den Massenmord mitverantwortlich ist. "Wer an dieser Mordmaschine hantierte, wurde der Mitwirkung am Morde schuldig, was immer er tat", argumentierte Bauer, "vorausgesetzt, dass er das Ziel der Maschine kannte, was freilich für die, die in den Vernichtungslagern waren oder um sie wussten, außer jedem Zweifel steht."

Bauer, dem aktuell im Wiener Justizpalast eine Ausstellung gewidmet ist, nahm in der deutschen Justiz eine Außenseiterposition ein – nicht nur weil er als Jude und Sozialdemokrat selbst ein Verfolgter des NS-Regimes gewesen war und lange im Exil auf eine Fortsetzung seiner juristischen Karriere in Deutschland hatte warten müssen. Seine Argumentation im Bezug auf die Vernichtungslager, auf die sich die Frankfurter Anklage stützte, erntete in der Bundesrepublik der 1960er-Jahre Kritik. Die Verantwortung für den Holocaust wurde meist nur den NS-Größen Hitler, Himmler und Heydrich zugeschrieben. Die Täter im Mordsystem galten oft nur als Gehilfen bei einer fremden Tat.

Fritz Bauer bei einer Pressekonferenz 1964.
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Großprozess mit nachhaltiger Wirkung

War der Auschwitz-Prozess also ein Misserfolg? Keineswegs, sagt Sybille Steinbacher, Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt. "Der Prozess hatte eine enorme gesellschaftliche Funktion und Bedeutung. Bauer ging es nicht nur darum, Täter vor Gericht zu bringen. Er wollte auch in der breiten Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Verbrechen des Nationalsozialismus schaffen zu einer Zeit, als nicht darüber gesprochen wurde."

Dem hessischen Generalstaatsanwalt war es nach jahrelangen Anstrengungen gelungen, die Aufarbeitung der Verbrechen in Auschwitz in einem großen Prozess zu bündeln. Vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit wurden damit nicht nur einzelne Aspekte der Massenvernichtung aufgerollt, sondern das System Auschwitz in seiner Gesamtheit.

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Drei der Angeklagten im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (von links): Wilhelm Boger, Victor Capesius und Oswald Kaduk.
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20 Monate lang wurde verhandelt, angeklagt waren Männer mit unterschiedlichsten Funktionen im Vernichtungslager: vom Lagerarzt bis zum Verwalter der Kleiderkammer, von Angehörigen der Lager-Gestapo bis zum stellvertretenden Kommandanten. Allein die Auflistung der Gräueltaten umfasste 700 Seiten der Anklage, hunderte Zeugen wurden angehört. Das mediale Echo war enorm. Es war dieser Prozess, der Auschwitz zu einem Sinnbild für den Holocaust machte.

Öffentlicher Umschwung

Das war bei weitem nicht Bauers einzige Leistung im Kampf gegen die deutsche Verdrängung und für eine aktive Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Seine Überzeugung, dass die Auseinandersetzung mit den Verbrechen für den Aufbau einer stabilen Demokratie unabdingbar sei, vertrat er bei vielen Gelegenheiten, auch abseits des Gerichts: in Radio- und Fernsehdiskussionen, in Büchern und Vorträgen, bei Gesprächen mit Studenten und Jugendlichen. Von Beschimpfungen, Morddrohungen und Hassbriefen, die es zur Genüge gab, ließ sich der Generalstaatsanwalt nicht beeindrucken.

Bekanntheit über Deutschland hinaus erlangte Bauer schon 1952, als er einen Prozess gegen den ehemaligen Wehrmachtsoffizier Otto Ernst Remer dafür nutzte, die öffentliche Wahrnehmung und juristische Bewertung der Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944 um Stauffenberg nachhaltig zu verändern. Remer, der sich nach dem Krieg als rechtsextremer Politiker hervortat, hatte die Widerstandskämpfer aus den Reihen des Militärs als "Landesverräter" verunglimpft und musste sich nach einer Anzeige wegen übler Nachrede vor Gericht verantworten.

Bauer ergriff die Gelegenheit, den Prozess zu einem öffentlichen Lehrstück über den Widerstand zu machen, den bis dahin ein erheblicher Teil der Deutschen als verräterisch einstufte. In seinem wegweisenden Plädoyer argumentierte er, ein Unrechtsstaat wie das nationalsozialistische Deutschland sei nicht "hochverratsfähig", sondern "berechtigt jedermann zur Notwehr". Am Ende des Prozesses stand ein wahrer Umschwung: Während Remer zu einer dreimonatigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, rehabilitierte das Gericht in seiner Urteilsbegründung die Attentäter des 20. Juli. Meinungsumfragen zeigten, dass nach dem Prozess 58 Prozent der Deutschen den Attentatsversuch auf Hitler guthießen. Kurz zuvor waren es nur 38 Prozent gewesen.

Eichmanns Entführung

"Bauer ging es nicht nur darum, Täter vor Gericht zu bringen", sagt die Historikerin Sybille Steinbacher. "Er wollte auch in der breiten Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Verbrechen des Nationalsozialismus schaffen."
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Dass sich Bauer auch hinter den Kulissen um die Ahndung von NS-Verbrechen bemühte, zeigt etwa seine Rolle beim Zustandekommen des Prozesses gegen Adolf Eichmann in Jerusalem 1961. Wie erst nach Bauers Tod 1968 bekannt wurde, hatte er den israelischen Behörden entscheidende Informationen zum Aufenthaltsort Eichmanns in Argentinien weitergegeben. Eichmann, einer der Hauptverantwortlichen für die Organisation des Holocausts, wurde entführt, in Israel vor Gericht gestellt und 1962 hingerichtet.

Bauer hätte Eichmann gerne vor ein deutsches Gericht gestellt, sah jedoch angesichts der Netzwerke ehemaliger Nationalsozialisten in den Behörden keine Chance dafür. Das Todesurteil in Israel bedauerte er, wie er später sagte. Auch weil Eichmann damit nicht mehr als Zeuge zur Verfügung stand.

Später Triumph

Wie sehr Fritz Bauer als Jurist seiner Zeit voraus war, zeigt ein später Paradigmenwechsel: 2011 folgten Richter im Münchener Prozess gegen den ehemaligen Vernichtungslager-Wachmann John Demjanjuk erstmals der Auffassung, allein der Dienst im Lager reiche für eine Verurteilung aus, auch wenn kein individueller Tatnachweis vorliege. "Damit wurden Bauers Ideen auch in der Rechtsprechung umgesetzt", sagt Steinbacher.

Anlässlich der Fritz-Bauer-Ausstellung in Wien betont auch der Historiker Oliver Rathkolb die Aktualität von Bauers Wirken: Umfragen in vielen europäischen Ländern würden zeigen, wie demokratiepolitisch wertvoll ein selbstkritischer Umgang mit der Geschichte sei. "Wer Demokratie fördern will, muss den Blick in die Vergangenheit machen."

Die Ausstellung "Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht" ist bis 19. Mai im Wiener Justizpalast zu sehen.
Foto: Regine Hendrich

In Österreich habe eine laute Stimme mit politischer Unterstützung wie Fritz Bauer gefehlt, sagt Rathkolb, Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, der die Ausstellung gemeinsam mit Steinbacher nach Wien gebracht hat. "Wir hatten keinen Fritz Bauer, aber wir hatten Oscar Bronner, der 1965 als junger Journalist eine für die politische Kultur in der Zweiten Republik sehr wichtige Debatte angestoßen hat, indem er die Wiedereinstellung von nationalsozialistisch belasteten Richtern und Staatsanwälten, die in Todesurteile der NS-Zeit aktiv verwickelt waren, thematisiert hat."

Impulse für die Forschung

Fritz Bauers Arbeit wirkt noch in einer anderen Hinsicht bis heute nach, sagt Steinbacher. Als der Generalstaatsanwalt NS-Verbrechen vor Gericht brachte, war die Geschichtsforschung noch kaum mit dem Thema beschäftigt. "Erst die Ermittlungen, die vonseiten der Justiz geführt worden sind, haben wichtige Impulse für die Forschung gegeben." Bauer suchte die Zusammenarbeit aktiv, indem er Historiker als Gutachter in den Auschwitz-Prozess holte. Ihre Gutachten, die 1965 unter dem Titel "Anatomie des SS-Staates" veröffentlicht wurden, waren bis in die 1980er-Jahre Standardwerke der zeithistorischen Forschung. (David Rennert, 22.4.2022)