Bild nicht mehr verfügbar.

Iwan Sergejewitsch Schmeljow: "Gedanken! Wer weiß denn schon, was ich denke! Für meine Gedanken wäre ich vielleicht längst zur Zwangsarbeit verurteilt!"

Foto: Picturedesk.com / Interfoto / Friedrich

Russlands Geschichte wird uns gerade wieder bedrängend nahegerückt. Beherrscht war sie zumeist durch staatlichen Terror. Das setzte sich vom Zarentum bruchlos ins stalinistisch gebrandmarkte Sowjetreich fort und ist auch bei Putin heute nicht anders.

Wie ein Seismograf ortete der junge Schriftsteller Iwan Sergejewitsch Schmeljow nach 1900 das stets wahrnehmbare Beben von Willkür und Gewalt im Untergrund der russischen Gesellschaft. In seinem 1911 erstmals erschienenen Roman Der Mensch aus dem Restaurant rumort es mitten im eher harmlosen Dasein eines Kellners von Verdächtigungen, Nachstellungen, Verleumdungen und plötzlichen Inhaftierungen.

Kellner sehen viel und wissen mehr. Im Allgemeinen behalten sie ihre Menschenkenntnis für sich. So auch der Servierdiener Jakow Skorochodow, der stolz ist, in einem der Moskauer Luxusrestaurants beschäftigt zu sein. "Wir haben nur zu antworten, wenn man uns fragt", ist seine Devise. Gegenüber den anspruchsvollen, oft auch anmaßenden und selbstgefälligen Gästen bemüht er sich redlich um Distinktion. Doch viele dieser angeberischen Neureichen überbieten sich in ausfälligem Verhalten, schmähen das Personal und beschweren sich in unflätigen Tiraden über Nichtigkeiten.

Der Kellner, als "schnellfüßig" bekannt und mit Frack und Backenbart äußerlich eine respektable Erscheinung, leidet innerlich zunehmend an der Willkür der begüterten Gäste, die ihn wie einen Lakaien maßregeln und auch vor persönlichen Erniedrigungen nicht zurückschrecken. Dann kann ihn beim Servieren schon einmal ein Ohrensausen überfallen. Von seinen Vorgesetzten erhält er keinerlei Rückhalt. Im Gegenteil, sie geben den Druck, der auch auf ihnen lastet, ungebremst weiter.

Unerschütterliches Gottvertrauen

Der Leser indes wird zum Vertrauten des Gepeinigten. Ihn lässt Skorochodow in einem romanfüllenden inneren Monolog an seinen Ansichten über die schikanöse Kundschaft und jene ganze halbseidene Bourgeoisie teilnehmen, der er zu Diensten sein muss. Und dem Leser vertraut er auch die häuslichen Kalamitäten an, die ihn wie eine Verkettung fortgesetzten Unglücks verfolgen.

Erst wird er von seinem Untermieter wegen einer haltlosen Verdächtigung angezeigt. Dann wird sein Sohn, der beschuldigt wird, sich mit regierungskritischen Kreisen eingelassen zu haben, zunächst von der Schule gewiesen und dann eingekerkert. Und schließlich lässt sich seine Tochter von ihrem schmierigen Arbeitgeber verführen und bleibt schwanger zurück.

Mit viel Galgenhumor und einem unerschütterlichen Gottvertrauen stemmt sich Skorochodow gegen den Unstern einer Hiobsexistenz und die Gefahr seiner versinkenden Karriere als Kellner, die zuletzt doch noch abgewendet werden kann.

Das Werk glänzt durch seine pointierte Ironie, trägt Züge eines aufmüpfigen Schelmenromans. Der 1873 geborene Autor Iwan Schmeljow ist damit einst, im Russland vor der Revolution, pfeilschnell zu hoher Bekanntheit gelangt.

Sein krasses Sittenbild der Verkommenheit einer vermeintlich "besseren" Gesellschaft, detailreich entworfen und subtil satirisch grundiert, wurde als meisterliche Fortsetzung der in der russischen Literatur früh eingeführten sozialen Anklage wider die Erniedrigung des "kleinen Mannes" begeistert aufgenommen. Die Gestalt des "Kellners von der traurigen Gestalt" eroberte sich einen markanten Platz im Gedächtnis der Leserschaft.

Die Gedanken sind frei

Iwan Schmeljow, "Der Mensch aus dem Restaurant". Aus dem Russischen übersetzt von Georg Schwarz. Nachwort von Wolfgang Schriek. 45,30 Euro / 310 Seiten. Die Andere Bibliothek, Berlin 2022
Cover: Die Andere Bibliothek

Russland war damals ein armes Land mit wenigen sehr Reichen – und ist es heute wieder. Dem Kellner Skorochodow scheint es, als gäbe es ein zweifaches Russland: das der Reichen und Mächtigen, die sich gleichsam als damalige Oligarchen in seinem Restaurant versammeln.

Und das Russland der einfachen, rechtschaffenen Leute, zu denen er sich zählt, das unter der autoritären Pressung leidet. Nur zu sehr ist ihm bewusst, wie prekär seine Ansichten, einmal geäußert, in der Öffentlichkeit wirken würden: "Gedanken! Wer weiß denn schon, was ich denke! Für meine Gedanken wäre ich vielleicht längst zur Zwangsarbeit verurteilt!"

Trotz der Beliebtheit seines sozialkritischen Romans geriet dessen Schöpfer nach der Oktoberrevolution 1917 bei den neuen Machthabern in Ungnade. Eine Zeitlang konnte er mit seiner Frau noch auf der Krim Zuflucht finden. Doch 1922 entschied er sich für die Flucht ins Exil nach Frankreich, wo er bis zu seinem Tod 1950 noch unermüdlich literarisch tätig war.

In seiner Heimat blieben seine Spuren lange verweht wie Fußstapfen im Schneegestöber. Erst die Öffnung des Landes gegenüber seiner vertriebenen Literatur brachte Iwan Schmeljow posthum wieder dem russischen Publikum zurück. (Oliver vom Hove, ALBUM, 23.4.2022)