Sind Verlage Rehe? Scheuen sie vor einem Genre, das sich jeder Einkreisung durch Kürze, Knappheit, Reduktion entzieht und von dem niemand so richtig sagen kann, was denn das nun ist: ein Aphorismus.

All dies trifft auf den Franzosen Jules Renard (1864–1910) zu. 1986 erschien eine deutsche Auswahl an Aufzeichnungen, Notaten, Gedanken, Ideen, in Tinte getaucht betitelt, versehen mit einem Nachwort Hanns Grössels. Diese Edition ist nach 36 Jahren neu aufgelegt worden, mit einem schönen Umschlag Nikolaus Heidelbachs und einer Handvoll seiner Illustrationen. Renard: "Sie kommen mir vor wie jemand, der sich seinen Kaffee glühend heiß bestellt und ihn dann kalt werden lässt."

Jules Renard, "Nicht so laut, bitte! Wenn Sie die Wahrheit sagen, schreien Sie immer so. Tagebuch 1887–1909". Mit einem Nachwort von Hanns Grössel. Ausgewählt und übersetzt von Liselotte Ronte. 28,80 Euro / 416 Seiten. Gatsby im Kampa-Verlag, Zürich 2022. Erscheint am 28. 4.
Cover: Gatsby im Kampa Verlag

50 Jahre nach seinem Tod wurde der Autor Renard in die Klassikerreihe Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen – mit dem Journal. Zwei Bände mit seinen heute kaum mehr aufgeführten dramatischen und seinen erzählerischen Arbeiten folgten erst zehn Jahre später.

Auf 1504 Druckseiten kommt die Pléiade-Edition des Journals, das seine Witwe um ein Haar verbrannt hätte, entdeckte sie doch nach dem Tod ihres Mannes darin Berichte über Affären, die er erfolgreich vor ihr verborgen gehalten hatte. Über Antoine de Rivarol, Frankreichs vielleicht letzten Autor der Aufklärung, der 1753 geboren wurde und 1801 in Berlin starb, meinte der Historiker Johannes Willms, er habe in "moussierenden Zeiten" gelebt.

Für die drei Generationen der sogenannten Moralisten vor ihm, Montaigne, Rochefoucauld, Chamfort und den geistreichen Charles-Joseph de Ligne, der 1814 in Wien starb, galt dies ebenfalls. Kriege, Hungersnöte, Pest, Revolution bildeten den Hintergrund ihrer Aufzeichnungen.

Jeder Mensch ist ein Tagebuch

Aufzeichnung, Diarium, Tagebuch. Einst wurde es vom kultivierten Großbürgertum Memoire geheißen, nach dem französischen "mémoire" für schriftliche Darlegung oder Denkschrift. Früher war der Inhalt üblicherweise privat und unter Umständen emotional heikel; heutzutage, als Variante des Blogs, ist es mit exhibitionistisch-narzisstischer Vorliebe das Gegenteil: global jederzeit einsehbar. Jeder Mensch ein aufgeschlagenes Tagebuch.

Exzeptionell viele Franzosen der Literaturmoderne gab es, die das Tagebuchschreiben extensiv pflegten, Heerscharen, von denen nur vier erwähnt seien, die das recht unterschiedlich taten, zwischen Sentiment-Erkundung und Hochphilosophie, Julien Green, André Gide, Paul Valéry und Paul Léautaud. Léautauds von 1893 bis 1956 geführtes Journal littéraire summiert sich gedruckt auf 19 Bände und umfasst mehr als 6000 Seiten.

Der heute kaum mehr gelesene Autor, Kulturhistoriker und Anthologist Gustav René Hocke stellte 1963 nach langer Vorarbeit mit Das europäische Tagebuch einen 1135 starken Band zusammen. Dabei meinte Renard klarsichtig: "Wozu wohl diese Tagebücher? Keiner sagt die Wahrheit, nicht einmal der, der sie schreibt."

Literarische Gattung

Der Philosoph Max Dessoir formulierte vor knapp einhundert Jahren elegant, ein solches Zeitprotokoll, ein Heft der Aufzeichnungen eines jeden Tages, verfolge die "Linie des eigenen Lebens". Das Tagebuch als literarische Gattung der Lebenslinie ist seit Jahrhunderten ein oszillierendes Genre.

So auch beim moussierenden Jules Renard, den es überall zu lesen lohnt. Und jede Seite von ihm. Wovon schrieb er, was waren seine Anregungen, Auslöser, Animositäten, die den über seinen mäßigen Erfolg grummelnden, zwischen Paris und seinem Heimatort Châlons-du-Maine im Département Mayenne, auf halber Strecke zwischen Le Mans und Rennes, pendelnden Autor bewegten? Es waren: Enttäuschungen, Beobachtungen, Melancholie, Literaturkritik, Faulheit, Erkenntnisse über die Menschenwelt: "Es genügt nicht, glücklich zu sein. Dafür ist auch nötig, dass die anderen es nicht sind."

Lieber unhöflich als banal

Dass Renard gallig sein kann, zeigt seine Bemerkung über einen Kollegen: "Mallarmé, unübersetzbar sogar ins Französische." Dies ganz im Sinne des Bekenntnisses: "Lieber möchte ich unhöflich sein als banal." Schließlich ein letzter Eintrag: "Wer die Krankheit der Skrupel nicht kennt, darf nicht einmal davon träumen, rechtschaffen zu sein."

Nicht ganz Maximen in der Nachfolge der Moralisten sind dies noch schwarzfunkelnde Splitter der Verzweiflung und Weltverachtung à la E. M. Cioran. Kein Ideensteinbruch und kein Tagesprotokoll à la Thomas Mann. Jules Renard fand einen anderen Weg: die klarsichtige Notiz als zeitbegleitendes Denklebensspiel. Denn: "Was immer die Literatur sein mag, es ist allemal schöner als das Leben."

Wäre eine neu übersetzte Gesamtausgabe von Renards Journal auf Deutsch zu viel verlangt? Am 20. Juli 1887 notierte Renard: "Der Geist ist für den wahren Verstand etwa das, was der Essig im Verhältnis zu einem starken guten Wein ist: ein Getränk für sterile Hirne und kranke Mägen." Santé et merci, M. Renard! (Alexander Kluy, ALBUM, 24.4.2022)