Wenn Herbert Tiwald beim morgigen Vienna City Marathon nach 42,195 Kilometern ins Ziel gelangt, werden die Siegerinnen und Sieger des Events längst weg sein. Sie haben dann ihr Bad in der Menge genommen, strahlende Siegerfotos gemacht, sich zum Ausrasten ins Hotel zurückgezogen oder sind bereits abgereist.

Herbert Tiwald sieht den Marathon gelassen – wichtig ist ihm nur, dass er vor dem Schlusswagen ankommt.
Foto: Regine Hendrich

Für Herbert Tiwald spielt das keine Rolle. In den vergangenen Jahren hat er immer länger als sechs Stunden für den Marathon durch Wien gebraucht. Letztes Jahr schaffte er die Königsdistanz in sechs Stunden, 26 Minuten und 27 Sekunden. Er wurde Vorletzter. Mehr als vier Stunden trennten ihn damit vom Sieger Leonard Langat, der die Ziellinie nach zwei Stunden und neun Minuten überquert hatte.

Tiwald ist seit einigen Jahren für das Team seines Arbeitgebers, der Post, mit dabei. "Ich wurde damals gefragt, ob ich nicht lieber mit einer kürzeren Distanz anfangen will", erzählt er von seinen Anfängen: "Aber ich hab gesagt: Ganz oder gar nicht." Der 49-Jährige arbeitet im Schichtdienst, auch laufen geht er in seinem Heimatbezirk Wien-Margareten am Liebsten allein und mitten in der Nacht: "Ich renne einfach nur, wie es mir taugt", erklärt er seine Trainingsphilosophie.

Beim Marathon selbst hört er mit seinen Kopfhörern Radio Niederösterreich, "da kann ich abschalten". Ob er dann am Ende als Erster oder als Letzter über die Ziellinie kommt, das ist Tiwald völlig egal: "Nur nicht mit dem Schlusswagen und den Mistküblern ins Ziel kommen", das hat er sich vorgenommen. Bisher hat er das immer geschafft.

Der Schlusswagen kommt

Den Abschlusstross hinter den Läufern und Läuferinnen bildet ein Polizeiauto, die Rettung, der ÖAMTC, es folgt ein Fahrzeug, in dem die abgebauten Absperrgitter verstaut werden, ein Mistwagen der MA 48. Und, ganz vorn, der Schlusswagen, wo viele Jahre lang Traude und Robert Wolfram hinterm Steuer saßen. Wenn die beiden Pensionisten vom Wien-Marathon reden, leuchten ihre Augen.

Traude und Robert Wolfram (im Bild mit Hündin Daisy) saßen viele Jahre lang im Schlussauto. Heuer sind sie erstmals nicht mehr dabei.
Foto: Regine Hendrich

Es ist schwer vorstellbar, dass die Wolframs bei langsameren Läufern jahrelang der Grund für sorgenvolle Blick über die Schulter waren: Aber wer von diesem Tross eingeholt wird, muss auf dem Gehsteig weiterlaufen, weil die Straße bald nach diesem Schlusstrupp wieder für den Verkehr freigegeben wird.

Das Schlussauto startet immer einige Minuten nach den letzten Läuferinnen und Läufern auf der Reichsbrücke. Sechseinhalb Stunden rollt es mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa sieben Kilometern pro Stunde das Feld von hinten auf. Die Langsamsten werden vom Auto oft gleich nach dem Start auf der Reichsbrücke überholt, erzählen die Wolframs.

Vor dem Auto Slalom laufen

Die Wolframs kennen die kleinen und großen Dramen, die sich abseits der Fernsehkameras und ohne Publikum abspielen, das sich bei den langsameren Läuferinnen und Läufern meist schon vom Streckenrand verabschiedet hat. "Die echten Tiefen erleben die älteren Leute, die nicht mehr können und die wir überholen müssen, weil wir nicht noch langsamer fahren können. Die haben uns immer leidgetan", sagt Traude Wolfram. Viele würden dann aufgeben.

Manche wollen auch nicht akzeptieren, dass sie das Schlussauto eingeholt hat, erzählt ihr Ehemann: "Besonders die Älteren motschgern mehr." Einige würden vor dem Auto regelrecht Slalom laufen, um es am Überholen zu hindern – ein erfolgloses Unterfangen, wie die Wolframs betonen.

Vom Marathon bleiben im besten Fall schöne Erinnerungen – aber auch viele Plastikbecher auf der Straße. Das ist dann Aufgabe der MA 48.
Foto: APA/HANS PUNZ

Insgesamt sind den beiden aber vor allem die schönen Erlebnisse und die großen Gefühle in Erinnerung geblieben. Die zwei Läufer zum Beispiel, die einander immer wieder überholt hatten, bis sie sich verbrüderten und gemeinsam ins Ziel liefen. Oder die vielen, die von den Wolframs bereits überholt wurden – und die dann plötzlich wieder am Auto vorbeizogen. "Die feiert man natürlich", sagt Robert Wolfram.

Und dann war da 2018 die Läuferin aus China, die kilometerlang allein als Letzte vor dem Auto herlief. "Gesundheitlich hat die mir irgendwann nicht mehr gefallen", erzählt Traude Wolfram. "Da hab ich mir gedacht: Ich mach jetzt etwas, was ich vielleicht nicht darf."

Gemeinsam ins Ziel

Also stieg sie aus, war mit einigen Schritten bei der Frau, der sie laufend Mineralwasser gab und eine Banane fütterte. So kam diese noch als Letzte ins Ziel, "dort hat sie mich gesucht und umarmt und abgebusselt. Das war für mich der schönste Augenblick", sagt Wolfram. Nachsatz: "Aber die hätte ich ins Ziel gebracht, egal wie. Notfalls hätte ich sie getragen." Heuer werden die Wolframs altersbedingt nicht mehr im Auto sitzen, ihr Nachfolger wurde bereits eingeschult. Dafür werden sie den Marathon erstmals auf dem Fernseher verfolgen, "dann sehen wir einmal die Ersten", sagen sie. Und ihre Augen strahlen.

16 Menschen haben im Vorjahr länger als sechs Stunden für den Marathon gebraucht, 2020 fiel der Marathon Corona-bedingt aus. 19 waren es 2019, 27 waren es 2018. Ein wenig schneller, nämlich mit einer Zielzeit zwischen fünf und sechs Stunden, laufen jedes Jahr immer ein paar Hundert ins Ziel. Insgesamt werde das Starterfeld über die Jahre langsamer, heißt es vonseiten des Veranstalters. Was auffällt: Die ganz langsamen Finisher sind meist Männer. Trotzdem: "Die Männer sind ehrgeiziger", sagt Robert Wolfram. "Die Frauen machen sich eher eine Hetz."

Renate Eckelhart wird am Sonntag das erste Mal einen Marathon laufen.
Foto: Regine Hendrich

Das will auch Renate Eckelhart. Die 49-jährige Angestellte wird heuer gemeinsam mit einer Freundin ihren ersten Marathon laufen. Wenn alles nach Plan läuft, will sie nach fünf Stunden und damit lange vor dem Schlusswagen die Ziellinie überqueren. Und wenn nicht? "Dann werden wir uns trennen", sagt Eckelhart, ihre Freundin werde ihr dann davonziehen, sie will allein weiterkämpfen. "Wenn ich schon in der Hauptallee bin, werde ich es mit Gehen und Laufen durchziehen", kündigt Eckelhart an: "Sonst muss der Besenwagen warten."

Bei jedem Wien-Marathon am Start

Gerhard Tomeczek (68) hat deutlich mehr Marathonerfahrung: Er ist einer jener Läufer, die bisher bei jedem Wien-Marathon am Start waren. Seine Bestzeit ist er 1990 mit zwei Stunden und 47 Minuten gelaufen. Im Vorjahr hat er für den Marathon dann fünf Stunden und 53 Minuten gebraucht. Damit war er völlig zufrieden: "Der Tag war ziemlich heiß, und ich hab mir das Tempo entsprechend eingeteilt", sagt er: "Es ist mir gutgegangen."

Manchmal, erzählt er, plaudere man auf der Strecke schon mit den Menschen, die neben einem laufen. "Aber es gibt auch Momente, wo man sich auf sich selbst konzentriert. Immer mit Blick nach vorn und durch." Das allerwichtigste Publikum wird ihn auch heuer im Ziel erwarten und anfeuern: seine Familie. "Beim Zieleinlauf überkommt es mich immer wieder, das ist für mich immer noch schön", sagt Tomeczek. Am Wichtigsten sei aber, gesund durchzukommen.

Ungesund ist das Marathonlaufen nicht – wenn man sich gut vorbereitet.
Foto: Regine Hendrich

Das Marathonlaufen an sich sei jedenfalls nicht ungesund. Auch dann nicht, wenn man dafür sechs Stunden oder mehr brauche, betont der Sportwissenschafter Michael Koller von der Sportordination, "sofern man gut vorbereitet und erholt an den Start geht – und dann nicht eine Woche später den nächsten Wettkampf laufen möchte". Bei jedem Tempo gilt beim Marathon aber: auf den Körper hören – und bei einem beklemmenden Atemgefühl, Druck auf der Brust oder zunehmenden Schmerzen im Bewegungsapparat aufhören.

Ein Blumenstrauß im Ziel

Traude und Robert Wolfram haben von ganz hinten in den letzten Jahren viel gesehen. Warum man einen Marathon läuft, verstehen die beiden ehemaligen Schlusswagenfahrer bis heute nicht ganz: "Eigentlich kann man das seinem Körper nicht antun", sagt Traude Wolfram. "Es muss in der DNA liegen, dass ein Mensch so etwas macht", sagt ihr Mann.

Auch Herbert Tiwald hatte auf seinen Marathonläufen Zeit, sich über das Warum Gedanken zu machen. Seine Antwort: "Weil es Spaß macht." Nicht ein einziges Mal habe er ans Aufhören gedacht. Und nach seinem Marathon geht er Jahr für Jahr mit seiner Medaille noch zu Fuß nach Hause.

Offizieller Zielschluss ist in Wien um 15.30 Uhr, also sechs Stunden nach dem Start. Während die Abbauarbeiten ganz langsam beginnen, damit der Ring bis 20 Uhr wieder befahrbar ist, trudeln aber noch Läuferinnen und Läufer ein. Der oder die Letzte wird auch heuer einen Blumenstrauß bekommen. Eine Medaille gibt es sowieso.

Denn eines haben die Ersten und die Letzten gemeinsam: Sie sind 42,195 Kilometer gelaufen. Und das macht sie alle zu Siegerinnen und Siegern. (Franziska Zoidl, 23.4.2022)