Österreichs Abhängigkeit von russischem Gas? Scherba: "Ein unglaublicher Fehler."

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Der ukrainische Diplomat Olexander Scherba, sieben Jahre lang Botschafter in Österreich, kommt schwer darüber hinweg, dass seine Warnungen vor Russlands imperialistischen Plänen in Wien einst niemand hören wollte. Im STANDARD-Interview versucht Scherba zu skizzieren, wie es für die Ukraine weitergehen könnte.

STANDARD: Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat in seiner Rede diese Woche nicht zugesichert, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Hat Sie das überrascht?

Olexander Scherba: Ich bin generell enttäuscht über die deutsche Position.

STANDARD: Inwiefern? Immerhin hat Deutschland die Ukraine bereits stark unterstützt.

Scherba: Für mich ist Deutschland ein ganz besonderes Land. Hier hatte ich meinen ersten Auslandseinsatz. Für einen Diplomaten ist das wie eine erste Liebe. Leider hat sich Deutschland seitdem sehr verändert. Das Deutschland, das ich kennengelernt habe, hat immer vor allem das gemacht, was im Interesse Europas war. Ich weiß nicht, in wessen Interesse Deutschland jetzt agiert, aber sicher nicht im Interesse Europas. Es hat seine Schwäche gegenüber Putin über Jahrzehnte kultiviert. Ich verstehe nicht, dass die Ukraine diese schweren Waffen immer noch nicht bekommt, gerade jetzt, wo jede Stunde zählt. Es kann sein, dass man das nicht nur vor den Wählerinnen und Wählern verantworten muss – sondern vor der Geschichte.

STANDARD: Sie haben auch Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) für seine Moskau-Reise kritisiert. Dennoch: Reden zu wollen kann doch keine Schwäche sein?

Scherba: Die Schwäche ist zu glauben, dass das etwas bringt. Mit Putin bringt das nichts. Wenigstens zu diesem Zeitpunkt. Putin muss man zuerst mit Stärke dazu bringen, Diplomatie ernst zu nehmen, Verhandlungen ernst zu nehmen.

"Man hat uns nicht zugehört. Ich glaube, die Emotionen unsererseits sind verständlich." Olexander Scherba
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STANDARD: Russland-Experte Gerhard Mangott von der Uni Innsbruck sagt, man dürfe Europa die langjährige positive Haltung gegenüber Russland nicht vorwerfen – weil sie unter anderen Voraussetzungen stattgefunden habe. Warum ist die Ukraine so vorwurfsvoll gegenüber Europa?

Scherba: Weil wir vor diesem Krieg immer wieder gewarnt haben. Weil wir gesagt haben, dass Putin ein Imperialist ist, der ein Reich aufbaut, vor allem auf Kosten der Ukraine. Man hat uns nicht zugehört. Ich glaube, die Emotionen unsererseits sind verständlich. Ob es etwas bringt, emotional zu werden, das ist eine legitime Frage. Vielleicht sollten wir uns darauf konzentrieren, wie wir alle, Menschen guten Willens, diese Dunkelheit gemeinsam überwinden können.

STANDARD: Präsident Wolodymyr Selenskyj wirft Putin Genozid vor. Sie auch?

Scherba: Für Putin geht es darum, die Ukraine zurück nach Russland zu bringen, diese sogenannte Einigkeit und die "drei brüderlichen Völker" – Russen, Belarussen, Ukrainer – zusammenzuführen. Nur: Die Ukrainer wollen nicht Teil des Putin’schen Reichs sein. Daher ist der einzige Weg für ihn, alle Ukrainer, die Widerstand leisten oder die das nicht wollen, zu beseitigen – töten, einschüchtern, zur Auswanderung zwingen. Sie haben wahrscheinlich diesen Artikel von Timofei Sergeitsev in der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti gelesen.

STANDARD: Sie meinen jenen Artikel, in dem die Ukraine als "Nazi-Staat" diffamiert und der russische Überfall legitimiert wird.

Scherba: In dem Artikel geht es um kollektive Bestrafung und kollektive Schuld aller Ukrainerinnen und Ukrainer vor Russland. Eine Schuld, die mindestens eine Generation büßen muss. Dieselben Töne hört man tagtäglich in jeder politischen Talkshow in Russland. Putins Ukraine-Berater Wladislaw Surkow sprach vom "Ukrainertum als einer Form geistiger Krankheit", die "behandelt" werden müsse. Die ukrainische Sprache sei nur ein Dialekt. Die ukrainische Kultur nur eine Erfindung des österreichischen Generalstabs im Ersten Weltkrieg, und so weiter. Das alles plus dem, was in Butscha, Irpin, Borodjanka und anderen Städten passierte, ist aus meiner Sicht der Anfang eines Genozids am ukrainischen Volk.

STANDARD: Die Ukraine hat gerade eben ihr Beitrittsansuchen zur EU ausgefüllt und abgeschickt. Ein Beitrittsprozess dauert Jahre. Wie hilft Ihnen dieser Schritt jetzt?

Scherba: Zunächst einmal ist es unglaublich wichtig für eine Nation, die um ihre europäische Zukunft kämpft und für ihre Freiheit im Sinne Europas, diesen Schritt zu gehen. Zweitens eröffnet der Kandidatenstatus ungeheure Möglichkeiten. Da wird die Welt die Ukraine anders anschauen. Das wird enorm viel verändern in jeglicher Hinsicht. Logistisch, wirtschaftlich, politisch.

"Was in Butscha, Irpin, Borodjanka und anderen Städten passierte, ist aus meiner Sicht der Anfang eines Genozids am ukrainischen Volk."
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STANDARD: Sie sind 2014 als Botschafter nach Österreich gekommen, da war die Annexion der Krim. Wen haben Sie vor den russischen Plänen gewarnt? Wie waren die Reaktionen?

Scherba: Ich habe mit allen gesprochen – mit geringem Effekt, leider.

STANDARD: Ab 2014 hat Österreich seine Energiepartnerschaft mit Russland vertieft. Wie haben Sie das erlebt?

Scherba:Ich habe immer wieder gewarnt: Hängt eure Energiezukunft nicht an jemanden, der kein Freund Europas ist. Das war ein unglaublicher Fehler. Aber ich muss zugeben, ich fühlte mich zu diesem Zeitpunkt auch absolut hilflos. Damals war OMV-Generaldirektor Rainer Seele sehr mächtig. Alle Türen öffneten sich ihm. Und auch der Unternehmer Sigi Wolf, damals Aufsichtsratschef der ÖIAG, unterstützte das sehr. Sie hatten Geld, Gazprom, Deripaska, Jakunin hinter sich. Ich hatte hinter mir nur die Wahrheit.

STANDARD: Ist es denkmöglich, dass die Ukraine auf einen Teil ihres Territoriums verzichtet, um das Töten der zivilen Bevölkerung zu beenden?

Scherba: Ein Referendum darüber in so einer Situation, das wäre lächerlich. Im Donbass genauso wie auf der Krim. Dafür gäbe es nicht einmal eine rechtliche Grundlage.

STANDARD: Warum nicht?

DER STANDARD

Scherba: Souveräne Länder treten nie freiwillig ihr Territorium ab. Das gibt es nur in den Situationen, wo Länder den Krieg verloren haben. Und wir verlieren diesen Krieg nicht. Wir wissen, dass ein Großteil des Donbass auch vor dem 24. Februar unter russischer Besatzung war. Rechtlich gesehen, werden wir uns nie mit diesen sogenannten Volksrepubliken abfinden. Aber wir werden diesen Teil der Ukraine nicht militärisch einnehmen. Das wird seine Zeit brauchen, bis diese Territorien zurück in die Ukraine kehren. Putin geht es aber gar nicht um den Donbass. Es geht ihm um die gesamte Ukraine. Wie der russische Patriarch Kyrill schon 2010 sagte: "Kiew ist unser Jerusalem." Das ist quasi ein Kreuzzug für Putin und für einen Großteil der russischen Gesellschaft. Deshalb ist die Annahme, ein Verzicht auf ukrainisches Territorium könne etwas bewirken, etwas naiv.

STANDARD: Was wünschen Sie sich in der jetzigen Situation?

Scherba: Ich wünschte, dass es Putin nicht gäbe. Er hat Russland zu einem faschistischen Land gemacht. 80 Jahre lang hat Europa gesagt: "Nie wieder." Jetzt ist der Faschismus zurück. Und wieder schaut Europa hilflos zu. (Petra Stuiber, 23.4.2022)