Vor gut zehn Jahren, als sie ihren Vater und Parteigründer Jean-Marie Le Pen aus der Partei warf, nannte man sie noch "die blonde Bestie". Auch die Immigranten wollte sie aus dem Land werfen, aus der EU und der Nato wollte sie austreten. Einführen, genauer: wiedereinführen wollte sie nur die Todesstrafe.

Jetzt wandelt "Marine", wie sie ihre Fans nur noch nennen, mit strahlendem Lächeln und staatsmännischer Pose über den Markt des südfranzösischen Städtchens Pertuis. Ein Selfie hier, ein Küsschen dort: Die Provence ist ein Heimspiel für die Rechte. "Ich habe das Volk hinter mir", lacht die Frau, die ihren Nachnamen vergessen machen will. "Ich werde Präsidentin sein."

"Ich werde Präsidentin sein": Marine
Le Pen will mit politischem Kuschelkurs Kurs auf den Élysée-Palast nehmen.
Foto: EPA / Stephanie Lecocq

Irgendwo skandieren ein paar schwarzgekleidete junge Leute, Faschisten hätten hier nichts zu suchen. Ein Paar mit einer Ukraine-Fahne schreit gegen Le Pens Putin-Affinität an. Und eine ältere Marktfahrerin mit muslimischem Kopftuch wirft der Starbesucherin vor, sie verletze Frankreichs sakrosanktes Prinzip der "égalité", wenn sie Immigranten Sozialrechte vorenthalten wolle.

Le Pen erwidert lächelnd: "Ich kämpfe für alle Franzosen." Schon schwebt sie weiter auf ihrer Wolke, zum nächsten Selfie, der nächsten "bise" (Küsschen). Der Pariser Sender BFM, der den Marktbesuch live überträgt, kommentiert anerkennend: "Sie ist populär. Sie macht hier keine Angst, sie ist kein Schreckgespenst mehr."

Inflationäre Wahlversprechen

Vor einem Stand mit dem Schild "ein Kleid 8 Euro, zwei 15 Euro" verspricht Le Pen "mehr Kaufkraft". Das ist ihr Trumpf-Ass. Seit alles teurer geworden ist, erhöht die Chefin des Rassemblement National (RN) ihre Wahlversprechen inflationär. Im ersten Wahlgang ist Le Pen mit 23,2 Prozent in die Stichwahl gegen Amtsträger Emmanuel Macron eingezogen; für die Stichwahl nähert sie sich laut Umfragen der 50-Prozent-Schwelle.

Beim Stichwort Macron lacht die Populistin nur. "Schieben wir ihm einen Riegel vor!", fordert sie in Umdrehung des linken Slogans, am Sonntag geschlossen gegen Le Pen zu stimmen. Die 53-jährige, zum dritten Mal antretende Präsidentschaftskandidatin spielt die sichere, die coole Siegerin. Sie, die früher gegen alles polterte und schimpfte, wirft nun Macron vor, er werde aggressiv und verliere die Nerven.

Marine, die nicht mehr Le Pen genannt werden will, weil das irgendwie rechtsextrem klingt, gibt sich geläutert und gelassen. Ihr Schritt ist, einstudiert, langsamer geworden, ihre Reibeisenstimme weicher und etwas heller. Im weichen Licht einer Salonlampe erzählt sie TV-Interviewern von ihren sieben Bengalkatzen. Oder von dem Bombenattentat auf ihren Vater, bei dem sie als Achtjährige einige Glassplitter abbekommen hat.

Neue Rolle Le Pens

Bereitwillig spricht sie gar von ihrem anderen Trauma, dem verpatzten TV-Streitgespräch gegen Macron im Jahre 2017. "Man wird besser, wenn man gelitten hat, gestürzt ist und sich Vorwürfe macht, weil man enttäuscht hat", sagt Marine herzergreifend.

Ihre neue Rolle beherrscht sie auch politisch: Den "Frexit" hat sie nicht mehr im Programm, bei der Nato will sie nur noch aus den Kommandostrukturen aussteigen. Das Kopftuchverbot auf offener Straße bezeichnet sie nun als "komplex", das heißt undurchführbar. Auch die Todesstrafe will sie nicht mehr zur Volksabstimmung unterbreiten.

Gegen Immigranten will Le Pen weiter radikal vorgehen. Nur noch ein Viertel der ausländischen Väter sollen ihre Familien nachbringen dürfen. Über solch unschöne Dinge spricht Marine aber nicht gern. Muss sie auch nicht: Alle Franzosen wissen von früher, dass Le Pen so viel bedeutet wie Anti-Immigration.

Rechtsextreme Nostalgiker

Die Franzosen haben immer noch Mühe, sich die Rechtspopulistin inmitten der Goldluster und Gobelin-Wandteppiche des Élysée-Palastes vorzustellen. Aber Marine hat an sich gearbeitet, systematisch. Nur einmal in jüngster Zeit fiel der republikanische Firnis von der RN-Chefin ab: Spontan applaudierte sie pensionierten Generälen, die in einem Brandbrief zum "Staatsstreich" gegen die "Banlieue-Horden" aufgerufen hatten.

DER STANDARD

Und dieser Appell erfolgte nicht von ungefähr zum 60. Jahrestag eines rechten Putschversuchs im Algerienkrieg. Da zeigte sich, welchen Wählern die Chefin des Le-Pen-Familienclans wirklich verbunden ist: nicht so sehr Arbeiterinnen, Gelbwesten oder Arbeitslosen, wie sie behauptet, sondern den rechtsextremen Nostalgikern der "Algérie française" in Südfrankreich.

Trotzdem ist die Zahl derer, die einen Wahlsieg der Ex-Anwältin als "Gefahr für Frankreich" beschwören, in wenigen Jahren von 80 auf unter 50 Prozent gesunken. Das ist nicht nur das Verdienst von "Ma rine", twitterte der christlich-soziale Politiker Jean Lagarde, der dem amtierenden Staatschef eigentlich nahestehen sollte. "Sicher ist, dass sie Macron nicht mehr wollen."

Frau ohne Nachname

Le Pen kämpft letztlich aber so allein wie ihr Rivale Macron. Ihren Vater hat sie verstoßen, ihre Nichte Marion ist im Wahlkampf zum Rechts-außen Éric Zemmour übergelaufen. Für eine Regierungsbildung fehlen ihr kompetente Leute.

Vom rechten Flügel der konservativen Republikaner und von souveränistischen Linken wie Arnaud Montebourg hat sie bisher nur Absagen erhalten. Mit Rechts-außen wie Nicolas Dupont-Aignan oder Zemmour hat sie sich überworfen.

Außerdem ist höchst zweifelhaft, dass Le Pens RN im Juni die Parlamentswahlen gewinnen könnte. Dann müsste die Präsidentin einen ihr nicht genehmen Premierminister der siegreichen Partei ernennen. Wir sehen weiter, wenn wir im Élysée sind, sagt die Frau, die keinen Nachnamen mehr haben will. (Stefan Brändle aus Paris, 23.4.2022)