Lisa kommt mit der Metro. Die 20-Jährige ist froh, dass zumindest der öffentliche Nahverkehr wieder funktioniert in dieser Stadt, die nach wie vor im Ausnahmezustand ist. Ein paar Tage war Ruhe, doch jetzt heulen wieder die Sirenen. Luftalarm.

Auch wenn das Leben in Kiew Schritt für Schritt in Richtung Normalität geht – alle wissen, der Krieg ist nach wie vor sehr nah. Vor Beginn der Großoffensive im Süden und Osten der Ukraine schlugen russische Geschoße in der Umgebung der Hauptstadt ein. Eine Raketenfabrik, eine Wartungseinrichtung für Panzer wurden dem Erdboden gleichgemacht.

"Ich liebe die Ukraine": Soldaten patrouillieren am Kiewer Maidan.
Foto: EPA / Nuno Veiga

Dass schon seit langem Krieg herrscht, in der Ostukraine, das weiß Lisa wie andere auch. Nun hat er Kiew erreicht, das hatte sie so nicht erwartet. "Es war am 24. Februar um 4.50 Uhr. Mein Vater rief an: ‚Wach auf, es hat begonnen!‘ Ich begriff nicht gleich. ‚Was hat begonnen?‘ ‚Lisa, der Krieg hat begonnen!‘"

Andauernder Albtraum

Die Wochen, die folgten, waren die Hölle. Alle Geschäfte geschlossen, auch die Apotheken, es gab kaum Lebensmittel. Vor den Tankstellen bildeten sich kilometerlange Staus. "Ich lebe am Stadtrand", erzählt Lisa, "Irpin ist nicht weit, Butscha. Dort gab es schreckliche Kämpfe. Über zwei Wochen erinnere ich mich an keine Nacht, die gut war. Es gab Explosionen, die Luftabwehr feuerte sehr nahe an meinem Haus. Die Russen zerstörten die Schule, die ich besucht hatte. Das Haus meines Freundes wurde getroffen."

Auch jetzt, drei Wochen später, ist es für Lisa ein Albtraum, der immer noch gegenwärtig ist. Zwar sind die russischen Truppen abgezogen. Doch alle in Kiew haben die Bilder im Kopf. Die Bilder der zerstörten Dörfer in der Umgebung. Die Bilder der Massengräber. Viele starren stundenlang auf ihr Smartphone, lesen die Nachrichten aus Charkiw, Mariupol, denken an ihre Verwandten, die Freunde, die dort sind.

Ein bisschen Normalität

Der Wunsch nach dem Leben von früher wird dann umso stärker. Als "ihr" Kiew eine moderne, weltoffene Metropole war. Man verabredet sich auch heute wieder, trifft sich, auch wenn die Cafés, die Restaurants nur bis 19 Uhr offen sind und ab 22 Uhr Ausgangssperre herrscht. Diejenigen, die unterwegs sind, wissen immer, wo die nächste Metro-Station ist. Die U-Bahn-Tunnel dienen im Ernstfall als Schutzräume, wo die Stadtverwaltung Lebensmittel und Wasser einlagert.

Es gibt wohl kaum einen symbolträchtigeren Ort in der ukrainischen Hauptstadt als den Maidan, den Unabhängigkeitsplatz. Im November 2013 war Wiktor Janukowitsch Präsident. Der Statthalter Russlands weigerte sich, ein langverhandeltes Abkommen mit der EU zu unterschreiben. "Ich geh auf den Maidan, wer kommt mit?", schrieb damals ein Journalist auf Facebook. Es folgten Proteste, Straßenschlachten, ein Massaker mit über 100 Toten, die Flucht Janukowitschs nach Russland, die Annexion der Krim, der Krieg in der Ostukraine. Vieles auf diesem Platz erinnert an diese Zeit. Die Orientierung des Landes in Richtung Westen hat hier begonnen.

Noch im vergangenen Jahr war der Maidan ein quirliger, großstädtischer Platz. Cafés und Restaurants, Straßenkünstler, buntes Leben. Heute ist der Unabhängigkeitsplatz kaum wiederzuerkennen: Die Restaurants sind geschlossen, nur wenige Menschen sind unterwegs, Soldaten patrouillieren, ein Checkpoint.

Unter dem Platz befindet sich eine große Shoppingmall – verschlossenes Rolltor. Der Supermarkt nebenan hat geöffnet. Versorgungskrise gibt es offenbar keine: Obst, Gemüse, Fleisch – alles ist da, auch in ausreichenden Mengen, so scheint es.

Hilfe bei Traumata

Olga, eine ausgebildete Psychologin, arbeitet als Streifenpolizistin. Sie ist ständig unterwegs, vermittelt auf der Straße, manchmal gibt es Diskussionen zwischen Soldaten und der Bevölkerung. Teils liegen die Nerven blank. Doch Olgas Hauptaufgabe ist die Betreuung ihrer Kolleginnen und Kollegen. "Wir unterhalten uns abends, in unserer Freizeit. Wir waren mit emotional schwierigen Situationen konfrontiert. In Irpin, Butscha, Gostomel. Wir kamen dort an, unmittelbar nachdem die russischen Truppen das Gebiet verlassen hatten. Wir und unsere Soldaten sahen als Erste die schrecklichen Dinge. Wir haben alles selbst gespürt und mussten mit der Bevölkerung dort reden."

An das, was sie vor wenigen Wochen erlebt hat, denke sie oft, sagt Olga. Dies zu verarbeiten sei schwer und gelinge vielleicht nie vollständig. "Mein größter Traum wäre, dass es einen echten Sieg gäbe. Keinen Kompromiss nach dem Motto ‚Lasst uns einfach in Ruhe‘. Einen echten Sieg: unsere Grenzen im Rahmen der völkerrechtlichen Grenzen. Ein wiederaufgebautes Land, glückliche Kinder und die Möglichkeit, unabhängige Entscheidungen zu treffen. Eben frei zu sein."

Sofiya Petrivna (90) erlebte schon den Zweiten Weltkrieg: "Wir haben alles wieder aufgebaut. Warum nun erneut alles in Schutt und Asche legen? Warum jetzt Kinder töten?"
Foto: Tony Mewse

Am Ende aller Träume

Solche Träume hat die 90-jährige Sofiya Petrivna schon lange nicht mehr. Sie lebt in einem Altersheim in der Innenstadt. Seit dem Tod ihres Mannes ist Sofiya allein. Zu Hause sein, das kann sie nicht mehr. Oft sei ihr schwindlig. Sie habe, so erzählt sie, einmal den Wasserkessel auf dem Herd vergessen, das sei nicht gut. Und im Heim fühle sie sich wohl. Gutes Essen, Pflege, den geliebten Nachmittagstee gibt es auch.

Doch nun der Krieg. Flucht war für die älteren Menschen – viele sind gehbehindert – kaum möglich. Eine Evakuierung gab es nicht. "Heute war Alarm", sagt Sofiya. "Wo soll ich mich verstecken, wenn eine Rakete in diesem schönen Haus einschlägt? Mir einen Arm, ein Bein abreißt? Wer braucht mich dann noch? Und wofür ist das Ganze? Das quält mich, und ich kann mich einfach nicht beruhigen".

Dass Russland gegen die Ukraine Krieg führt, das kann Sofiya, die den Zweiten Weltkrieg noch miterlebt hat, nicht verstehen. "Die Russen, das sind doch Brüder. 1941 bis 1945 saßen mein Mann und ein russischer Soldat, der heute vielleicht auch Urgroßvater ist, in einem gemeinsamen Schützengraben. Sie aßen Brei oder Eintopf aus einer gemeinsamen Schüssel."

"Du hast doch auch Kinder!"

Das, was in diesen Tagen geschehe, beleidige sie regelrecht, sagt Sofiya. "Ich bin eine Urgroßmutter, ich habe gearbeitet, der Krieg war vorbei. Wir haben alles wieder aufgebaut. Warum jetzt wieder alles in Schutt und Asche legen? Warum jetzt Kinder töten? Wofür?" Gerne, so sagt sie, würde sie den russischen Präsidenten Wladimir Putin treffen. "Wenn sie mir das erlauben würden, ihn zu sehen, ihm in die Augen zu schauen, würde ich ihm sagen: Du hast doch auch Kinder! Was denkst du, wenn du Kinder in den Krieg schickst?"

Sofiya fällt es schwer, die Russen, die für sie Brüder sind, zu hassen. Für die jüngere Generation, für die der Weltkrieg Geschichte ist, liegen die Dinge anders. "Seit diesem Krieg jetzt ist die Sache für mich klar", sagt Lisa: "Ich möchte niemals in einem anderen Land leben. Ich werde niemals mein Heimatland verlassen. Und jeder Russe, jeder russische Terrorist, der das Land besetzen will, wird getötet werden." (Jo Angerer aus Kiew, 23.4.2022)