In den letzten Umfragen konnte Emmanuel Macron seinen Vorsprung auf Marine Le Pen leicht vergrößern, dennoch wurden die besorgten Appelle an die Wählerschaft häufiger: Ja, es gebe am Amtsinhaber sicher viel auszusetzen – doch die Alternative wäre bedeutend schlimmer.

Fotos: EPA / Badra, AP / Cole; Montage: Lukas Friesenbichler

Grünen-Kandidat Yannik Jadot rief dazu auf, "ohne Zögern, ohne Ambivalenz, in aller Klarheit" für Macron zu stimmen. Der Chefredakteur der Zeitung La Croix, Jérôme Chapuit, wandte sich direkt an seine katholischen Leser, die laut der Analyse des ersten Wahlgangs fast ebenso häufig für die Populistin wie für den Präsidenten gestimmt hatten. Le Pen liege auf der gleichen Linie wie Donald Trump und Wladimir Putin, sagte Chapuit per Video; spätestens seit dem Ukraine-Krieg wüssten alle, dass Nationalismus nur zu Spaltung und Gewalt führe.

"Eine Art Staatsstreich"

Das einzige TV-Duell am Mittwochabend hatte zwar keinen eindeutigen Sieger ergeben, doch Publikumsreaktionen legen die Annahme nahe, dass viele bemerkt haben, welche Gefahr Le Pens Vorschläge für den zivilen Frieden im Land darstellen würden. Der bekannte Verfassungsrechtler Dominique Rousseau geht am weitesten: "Was Marine Le Pen vorschlägt, ist eine Art Staatsstreich. Die Umsetzung ihres Wahlprogramms würde das Kulturerbe der Aufklärungsphilosophie und der Französischen Revolution über den Haufen werfen."

Im Visier hat Rousseau das zentrale Versprechen Le Pens, die "préférence nationale" einzuführen. Dieser "nationale Vorrang" für Franzosen gegenüber Ausländern gälte für die Arbeitssuche, Sozialwohnungen und andere Sozialhilfen. Er wäre nicht nur ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, sondern auch gegen Völker- und EU-Recht. Im besten Fall würde er zu einem jahrelangen internationalen Rechtsstreit führen – im schlimmsten Fall zum EU-Austritt Frankreichs.

Warum das? Le Pen will die Neuerung per Volksabstimmung absegnen lassen und in die Verfassung einschreiben. Damit der Verfassungsgerichtshof das Vorhaben nicht stoppen kann, will Le Pen im Voraus eine weitere Bestimmung in die Verfassung aufnehmen lassen: Das Höchstgericht soll Volksabstimmungen in keinem Fall für verfassungswidrig erklären können.

Gegen das Völkerrecht

Dafür müssten aber die beiden Parlamentskammern ihr Placet geben. Das scheint sehr unrealistisch: Selbst wenn Le Pens Rassemblement National (RN) im Juni die Wahlen in die Nationalversammlung gewinnen würde, könnte der konservativ dominierte Senat – wo derzeit keine Wahlen anstehen – die Verfassungsänderung verhindern. Sicher ist, dass der Rechtsstreit Frankreichs Politik auf Monate hinaus blockieren würde. Und die EU.

Generell will Le Pen den Vorrang des nationalen Rechts vor europäischem oder internationalem Recht in der französischen Verfassung festschreiben. Das ist der zweite Kernpunkt Le Pens. Frankreich ginge damit noch weiter als Polen.

Schwerste Spannungen

Le Pen bekämpft das gesamte völkerrechtliche Prinzip, dass einmal ratifiziertes internationales Recht über nationalem Recht steht. Die Folgen: unabsehbar. Die Rechtsunsicherheit wäre vollkommen, die EU kaum mehr handlungsfähig. Es sei denn, Frankreich träte aus der EU aus.

Offiziell will Le Pen keinen "Frexit" mehr. Proeuropäer wie Macron werfen ihr aber vor, sie strebe den Austritt auf Umwegen an. So will sie auch die Europäische Menschenrechtskonvention nicht mehr voll befolgen. Dabei ist dieser Text eine offizielle Bedingung für die Mitgliedschaft in der EU.

DER STANDARD

Die Pariser Zeitung Le Monde schreibt mit Blick auf die geplante Entmachtung des Verfassungshofes, Le Pens Wahlprogramm wäre ein "coup de force", ein Gewaltstreich, für die EU politisches Dynamit. Schwerste Spannungen zwischen Paris und Brüssel wären nur der Anfang. Die Wirtschaft des Kontinents würde zweifellos noch mehr leiden, als das heute schon der Fall ist.

Partnerschaft mit Moskau?

In Frankreich selbst wäre Feuer am Dach, würde das islamische Kopftuch aus dem gesamten öffentlichen Raum verbannt. Macron warnt vor einem "Bürgerkrieg".

Vorbei wäre es auch mit der EU-Einheit gegenüber Moskau. Le Pen schlägt eine "Partnerschaft mit Russland" vor, "wenn der Ukraine-Krieg vorbei ist". Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach zwar keine Wahlempfehlung aus, sagte aber, er wolle Macron als Gesprächspartner "nicht verlieren". (Stefan Brändle, 23.4.2022)