Jahrzehntelang sahen wir es als Selbstverständlichkeit an, dass wir Europäerinnen und Europäer in Frieden und Wohlstand leben können. Wir schienen die Lektionen der beiden Weltkriege gelernt und uns auf ein Miteinander statt Gegeneinander verständigt zu haben. Wir schufen – zuerst im kleineren Rahmen, dann im großen Stil – eine Basis für wirtschaftliche Zusammenarbeit, aus der schließlich ein gemeinsames politisches Haus wurde. Noch nicht fertiggebaut, aber immerhin schon bewohnbar.

Dass 1984 der deutsche Kanzler Helmut Kohl und der französische Präsident François Mitterrand in Verdun Hand in Hand der in den Weltkriegen gefallenen Soldaten gedachten, mag heute für viele kaum mehr als eine historische Fußnote und ein hübsches Foto sein; tatsächlich war es aber ein Meilenstein auf dem Weg zum gemeinsamen Europa.

Heute wird die Europäische Union von außen bedroht wie niemals zuvor. Die Menschen in Europa reagieren darauf mit einer überraschenden Solidarität und Einigkeit; ein Zusammengehörigkeitsgefühl, wie es wohl keine noch so aufwendig inszenierte EU-Zukunftskonferenz und kein wie auch immer gearteter politischer Diskurs bewirken könnte. Das schafft Zuversicht.

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Marine Le Pen schaffte es erstmals 2017 in die Stichwahl – und nun auch 2022.
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Korrosive Gefahr

Was aber in dieser Zeit des Krieges, aber auch der schier endlosen Mühen der Corona-Pandemie ein wenig aus dem Blickfeld zu geraten droht, ist die korrosive Gefahr für Europa, die von innen kommt. Schon lange arbeiten nationalistische, populistische Bewegungen daran, die eigene Nation wieder zu stärken und gleichzeitig die Union zu schwächen – mit einigem Erfolg, wie man etwa an den Beispielen Polen und Ungarn sehen kann.

In Frankreich trat Marine Le Pen erstmals 2012 bei Präsidentschaftswahlen an, 2017 schaffte sie es sogar in die Stichwahl – wie auch jetzt 2022. Verschreckte sie vor fünf Jahren mit ihrer aggressiven Rhetorik noch allzu viele Wählerinnen und Wähler, so änderte sie später ihre Strategie, gab sich fortan offener, besonnener, versöhnlicher, wurde zusehends "präsidiabler". Doch in ihren Ansichten und Forderungen war und ist sie weiterhin extrem und bleibt dabei, den Primat Frankreichs über die EU in allen Bereichen durchsetzen zu wollen, nötigenfalls durch Verfassungsänderungen. Die EU soll auf ein "Europa der Nationen" reduziert werden. Starke, auch beunruhigende Ansagen.

Doch das ist nicht alles: In knapp einem Jahr wird in Italien ein neues Parlament gewählt. 2018 war Matteo Salvini, Chef der rechten Lega, schon fast am Ziel – 2023 könnte eine andere Rechtspolitikerin tatsächlich die Wahl gewinnen: Giorgia Meloni von den Fratelli d’Italia gilt als verbindlicher, als weniger konfrontativ als Salvini. Sie pflegt auch nicht dessen rauen Ton – sie agiert vielmehr wie Le Pen, Ausgabe 2022.

Doch auch bei Meloni ist die nationalistische Agenda klar. Im Gegensatz zu Salvini hat sie aber erkannt, dass man behutsam vorgehen und Kreide fressen muss, um nicht nur den Applaus des eigenen Lagers zu bekommen, sondern auch die Stimmen der Frustrierten, die sich bisher nicht an den rechten, teilweise rechtsextremen Rand begeben wollten.

In jedem Fall sind die gemäßigten Parteien in ganz Europa gut beraten, solche Warnzeichen zu beherzigen. Denn ebenso wenig wie Frieden und Wohlstand ist politische Macht eine Selbstverständlichkeit. (Gianluca Wallisch, 24.4.2022)