Energiekrise und Krieg treiben die Preise an, insbesondere für Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs.

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Wien – Die Ankündigung von Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) , die Abschaffung der kalten Progression zu prüfen, lässt die Spekulationen über einen solchen weitreichenden Schritt ins Kraut schießen. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner forderte am Sonntag die Abschaffung der kalten Progression. "Mit einem Automatismus aber nur bei den unteren Tarifstufen", sagte Rendi-Wagner in der ORF-Pressestunde.

Der emeritierte Professor für Finanzrecht, Werner Doralt, sieht genau in einem Automatismus das große Problem: "Verpflichtend für die Zukunft würde man mit einer generellen Abschaffung kommende Regierungen binden. Aber jede Regierung soll Steuerpolitik machen können", sagt Doralt im Gespräch mit dem STANDARD.

Nicht "für immer und ewig"

Deshalb sollte die kalte Progression keinesfalls "für immer und ewig" abgeschafft werden. Stattdessen empfiehlt der frühere Vorstand des Instituts für Finanzrecht der Universität Wien, eine solch weitreichende Maßnahme jeweils nur für das jeweilige Haushaltsjahr zu beschließen. Jede Regierung solle jene Steuerpolitik machen können, die sie machen will. "Den Leuten später etwas wegzunehmen ist enorm schwierig, wie sich aktuell an der Pendlerpauschale zeigt."

Der Familienbonus samt seiner Erhöhung im Zuge der von Schwarz-Grün im Vorjahr beschlossenen Steuerreform beispielsweise wäre nicht möglich gewesen, hätte die rot-schwarze Koalition die kalte Progression abgeschafft, wie es damals im Koalitionsprogramm fixiert war. Dafür wäre beim Steueraufkommen schlicht keine Manövriermasse vorhanden gewesen. Gestoppt wurden die Pläne damals übrigens auf Betreiben der SPÖ.

Besserverdiener profitieren

Stichwort Sozialpolitik: Profiteure einer generellen Abschaffung der kalten Progression wären eindeutig Besserverdiener, sagt Doralt. Denn deren Einkommen bewegten sich in den höheren Tarifstufen.

Von der sogenannten kalten Progression spricht man dann, wenn aufgrund von Lohn- oder Gehaltserhöhungen ein Teil des Gehalts in die nächste Tarifstufe rutscht und somit höher besteuert wird – obwohl das Realeinkommen möglicherweise gar nicht steigt.

Steuerprogression

Hintergrund: Die Einkommensbesteuerung erfolgt in Österreich nicht nach Monatslöhnen oder -gehältern, sondern basierend auf dem Jahreseinkommen gestaffelt in sieben Tarifstufen:

·Tarifstufe 11.000 bis 18.000 Euro Beginnend bei 11.000 Euro (darunter ist keine Lohnsteuer fällig) wurde der Grenzsteuersatz im Jahr 2021 von 25 auf 20 Prozent gesenkt.

·Tarifstufe 18.000 bis 31.000 Euro Die zweite Stufe umfasst den Teil des Jahreseinkommens zwischen 18.000 und 31.000 Euro, der Grenzsteuersatz wurde im Zuge der Steuerreform von 35 auf zunächst 32,5 Prozent gesenkt und sinkt 2023 auf 30 Prozent.

·Tarifstufe 31.000 bis 60.000 Euro In der dritten Progressionsstufe beträgt der Grenzsteuersatz 42 Prozent, er wird 2023 auf 41 Prozent sinken und 2024 auf 40 Prozent.

·Tarifstufe 60.000 bis 90.000 Euro Der Grenzsteuersatz beträgt 48 Prozent und wird in absehbarer Zeit auch nicht gesenkt.

·Tarifstufe 90.000 bis 1.000.000 Euro Einkommen in dieser Liga werden mit 50 Prozent besteuert.

·Tarifstufe über einer Million Euro Die Einkommen der Millionäre jenseits einer Million Euro werden mit 55 Prozent besteuert.

Ähnlich wie Doralt argumentiert Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP), der in seinem Leben vor der Politik als Verhaltensökonom forschte und das Institut für Höhere Studien (IHS) leitete. Mit einem Automatismus könnten Reformen des Steuersystems schwieriger werden, sagte Kocher, von der APA beim Mediengipfel in Lech am Arlberg befragt.

Experten sind uneins in dieser Frage – und die Politik auch. Das lässt sich auch daran ablesen, dass nur etwas mehr als die Hälfte der OECD-Länder in Europa einen Automatismus installiert hat, mit dem der Staat zusätzlich eingenommenes Geld an Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zurückgibt. Reichtümer sollte man sich davon allerdings nicht erwarten. Denn im Gegenzug zu einer Inflationsanpassung der Tarifstufen (Indexierung) würden auch Abzüge wie Kinderbonus indexiert, was den Effekt in der Schweiz mehr oder weniger egalisiere, errechnete der Budgetdienst des Nationalrats im Jahr 2018.

Weitere Entlastungspakete

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) stellte weitere Entlastungspakete in Aussicht – über die bereits beschlossenen Energieentlastungspakete im Volumen von rund vier Milliarden Euro hinausgehend. Die Maßnahmen müssten speziell bei Haushalten mit geringerem Einkommen ansetzen, weil diese Bevölkerungsgruppe mehr betroffen seien. Die im Finanzministerium angesiedelte Expertengruppe, die strukturelle Maßnahmen wie die Abschaffung der kalten Progression und deren Vor- und Nachteile prüfen soll, kommt heute, Montag, zusammen.

Eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel befristet auf null Prozent zu setzen, wie von der SPÖ-Chefin und von ÖGB-Präsident Katzian gefordert, hält Kocher für nicht "zielgenau". Eher könnte man über eine Bindung der Strom- an die Gaspreise oder über hohe EU-Zölle auf Energie-Substitute reden, um der Inflation entgegenzuwirken. (Luise Ungerboeck, 25.4.2022)