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Die Präsidentschaftswahl in Frankreich mag geschlagen sein, die harten Debatten über Reformen, Europa und Sicherheit bleiben. Die Opposition sitzt dem wiedergewählten Staatschef jedenfalls im Nacken.

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Es war punkt 20 Uhr am Sonntagabend, als sich die Spannung eines monatelangen, aufreibenden Wahlkampfs entlud. Frenetisch feierten junge Macron-Wählerinnen und -Wähler den Sieg ihres Idols auf dem Pariser Marsfeld. Als der Slogan "nous tous" (wir alle) auf einer Großleinwand erschien, skandierte die Menge den französischen Sportruf "on a gagné" – wir haben gewonnen. Frankreich- und Europa-Fahnen schwenkend, wartete sie auf Macron, der erst später am Abend für eine Rede erwartet wurde.

Die Freude und Erleichterung seiner Fans waren mit Händen zu greifen. Zum Schluss hatten sie doch noch gezittert, nachdem die Wahl vor dem ersten Durchgang als Formalität für Macron geschienen hatte. In den Umfragen für den zweiten Wahlgang war die Rechtspopulistin Marine Le Pen dem Amtsinhaber bis auf 48, einmal gar 49 Prozent nahegerückt. Im Pariser Hauptquartier von "En Marche" erinnerte man sich plötzlich, dass die französischen Wähler amtierende Präsidenten gerne in die Wüste schicken: So geschehen Nicolas Sarkozy 2012, so auch François Hollande 2017.

Macrons Rede nach dem Sieg.
DER STANDARD

Macron änderte seine Strategie darauf radikal. Er platzierte sich nicht länger über den Niederungen der Politik, sondern stieg beherzt in die Arena. Statt wie bisher die übrigen Kandidaten bewusst zu ignorieren, griff er Le Pen frontal an: Ihr Rassemblement National sei keine Sammlungsbewegung, wie es der Name verheiße, sondern ein Familien-Clan, erklärte er angriffig. Im einzigen TV-Duell der beiden Kontrahenten deutete Macron sogar an, Le Pen könne nicht Präsidentin eines westlichen Landes werden, wenn sie vom Putin-Lager einen Millionenkredit entgegengenommen habe, der bis heute nicht zurückbezahlt sei.

Entlarvte Kandidatin

Die neue Offensivtaktik zahlte sich aus, wie das Wahlresultat belegt. Le Pen war als das entlarvt, was sie ist: eine Kandidatin, die schlicht nicht das Zeug zur Staatspräsidentin hat.

Macron hat es, kein Zweifel. Der 44-jährige Absolvent des Pariser Elitegymnasiums Henri-IV, der Uni Sciences Po und der Verwaltungseliteschule Ena reagierte nicht nur im TV-Duell agil und schlagfertig. Das mögen Franzosen an ihm: Er hat zu allem etwas zu sagen, und er sagt es mit Präzision und Stil.

Auf diese Art meisterte Macron unter anderem die Gelbwesten-Krise, die sein Land 2019 bedrohte. In einem Normandie-Ort sprach er einmal sieben geschlagene Stunden am Stück. Nur seine Weste zog er aus, auch trank er etwas Wasser – sonst sprach er. Und nur er. Die Zuhörer, beeindruckt oder erschlagen von dem Redefluss, hörten staunend zu.

Le Monde kommentierte später, Macron sei ein "Casanova der Politik", der jedes Publikum für sich einzunehmen und zu überzeugen verstehe. Mit der nationalen Gesprächstherapie seines "Grand débat" (große Debatte) befriedete er die Nation und die Gelbwesten.

Bloß: Die dabei getätigten Ankündigungen waren rasch vergessen. So wie die Wahlversprechen seiner ersten Kampagne von 2017. Das Wichtigste, eine überfällige Rentenreform, hat er bis heute nicht durchgebracht. 15.000 neue Gefängnisplätze: auf die lange Bank geschoben. Abbau von 50.000 Beamtenstellen? Während Macrons Amtszeit entstanden zehntausende neuer Posten in der Verwaltung. Einsparungen von 60 Milliarden Euro im Staatshaushalt? Im Gegenteil: 190 Milliarden Zusatzausgaben. Und längst nicht nur Covid-bedingt, wie Macron behauptet.

Keine "révolution"

Geschafft hat der Präsident eine schwierige Arbeitsmarktreform, die Lehrstellen schaffte und Kündigungen erleichterte. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit auf 7,4 Prozent geht teilweise darauf zurück. Die Grundlage dafür hatte allerdings Hollande vor 2017 gelegt. Von einer "révolution", die Macron 2017 in einem Wahlkampfbuch versprochen hatte, war seine erste Amtszeit aber weit entfernt.

Für sein neues Fünfjahrmandat machte Macron vor allem soziale, das heißt finanzielle Versprechen. Daher schnellten die Staatsschulden hoch. An Strukturreformen plant der wiedergewählte Staatschef eigentlich nur noch die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 65 Jahre. Aber Macron zweifelt offenbar selbst, dass es beim zweiten Anlauf klappen könnte: Schon vor dem Wahlfinale sprach er von der Möglichkeit, das Rentenalter nur auf 64 Jahre zu erhöhen; das restliche Jahr soll erst nach 2027 eingeführt werden. Da Macron verfassungsbedingt kein drittes Mal kandidieren kann, bedeutet das, dass er die heiße Kartoffel zumindest zum Teil an seinen Nachfolger weiterreicht.

Denn auch der Staatschef sieht: Die Wahlurnen sind noch nicht verräumt, da hat sich schon eine geballte Front aus linken und rechten Kräften gegen die "Mutter aller Reformen", wie man die Pensionsfrage in Frankreich nennt, gebildet. Die "Unbeugsamen" des linken Volkstribuns Jean-Luc Mélenchon und die Le-Pen-Anhänger werden in Macrons zweiter Amtszeit die eigentliche Opposition bilden. Eine harte, radikale, vielleicht auch gewalttätige Opposition.

Keine "lame duck"

Macron hat letztlich die Wahl. Entweder legt er die Hände in den Schoß und tut nur noch so, als ob. Sich den hyperaktiven Macron als "lame duck", als lahme Ente einer immobilen zweiten Amtszeit vorzustellen, fällt allerdings schwer. Oder Macron versucht sich doch noch an seinen Reformen. Dann wird es um den zivilen Frieden im Land bald einmal geschehen sein.

Das auch, weil Macron in seiner ersten Amtszeit zu einer eigentlichen Hassfigur für Links- und Rechts-außen geworden ist. Und er gibt diesen Ressentiments mit seinen saloppen Sprüchen auch noch reichlich Nahrung. Wie auch mit seinen Allmachtansprüchen. "Jupiter", wie er sich einmal selber nannte, duldet im Olymp des Élysée-Palastes keine Partner neben sich, nur Ausführende seines Willens. Die Verfassung der Fünften Republik beruhe nun einmal auf dem Prinzip der "Vertikalität", dozierte er.

In einem wenig beachteten Wahlinterview spielte Macron unlängst gar mit der Idee, die fünfjährige Amtszeit des Staatschefs auf sieben Jahre zu verlängern. Mit Gültigkeit schon für ihn selbst? Politische Gegner wie der "unbeugsame" Anwalt Juan Branco verdächtigen ihn jedenfalls, er wolle damit die verfassungsmäßige Obergrenze von zwei Mandaten sprengen – wie dies ein gewisser Wladimir Putin vorgemacht habe. Seither schweigt Macron zu seinem Versuchsballon. Die Animosität, auf die er im ganzen Land stößt, wird dadurch aber zusätzlich angeheizt.

Vielleicht interessiert sich Macron auch deshalb so stark für die Weltpolitik. Mit Diplomaten kann Macron eher als mit dem Volk, in dem einige "nichts sind", wie er einmal abfällig erklärte.

Überzeugter Europäer

Erfolg hatte Macron dort, wo er seine Überzeugung hat: in Europa. Seine Sorbonne-Rede von Herbst 2017 machte bereits Geschichte. Mit Folgen: Macron überredete erstmals "les amis allemands", die deutschen Freunde, zu einer gemeinsamen Schuldenaufnahme. 750 Milliarden Euro flossen in den Covid-Wiederaufbaufonds.

Noch unter Angela Merkel, aber auch danach war der wendige Franzosen den Deutschen meist einen Schritt voraus. Frankreich, nach dem Brexit die einzig verbliebene Nuklearmacht der EU und dort auch das einzige permanente Mitglied des Uno-Sicherheitsrates, gibt in Brüssel heute den Ton vor. Und am Sonntagabend hat er Europa auch von den Lepenisten verschont. Das ist nicht nichts.

In Paris hat er seine Herausforderin aber weiter im Nacken. Der Wahlsieger ist in seinem Palast, politisch gesprochen, einsamer denn je. (Stefan Brändle aus Paris, 24.4.2022)