Musikkabarett mir rollenden "R" – Rammstein sehen die Schönheitschirurgie kritisch.

Foto: Jens Koch

Der herrschenden Marktlogik von "Schneller, höher, stärker!", und vor allem "Mehr!", geht irgendwann die Luft aus. Siehe Planet Erde. Sogar wir dafür verantwortlichen niedrigen Lebewesen erkennen das. Richard Kruspe von Rammstein sinnierte deshalb schon vor 13 Jahren über das Ende seiner Band: "Du kannst nur noch aufrüsten, weil die Leute immer mehr erwarten." Aber irgendwann ist der Plafond erreicht, selbst der Provokateur hat’s schwör.

Die mit Provokation ihr Butterbrot verdienenden Rammstein singen aktuell wieder ein Lied davon, elf sogar. Das neue Album der deutschen Band heiß Zeit und erscheint am Freitag dieser Woche. Stellenweise wirkt es wie ein letztes Aufbäumen, denn schon vor diesem siebenten Studioalbum mehrten sich Gerüchte, Rammstein könnten aufhören.

Eine schwere Lungenentzündung des Sängers Till Lindemann legte dem Rumor zusätzlich Gewicht auf, und dass das letzte Lied des neuen Albums ausgerechnet Adieu heißt, wird die Stirn der Fangemeinde noch tiefer in Sorrrgenfalten legen.

Skandälchen pflastern ihren Weg

Rammstein zählen zu den stetigen Provokateuren des Pop und wurden damit eine der international erfolgreichsten Bands Deutschlands. Skandälchen, mit Genuss selbst herbeigeführte Missverständnisse und daraus folgende Indizierungen pflastern ihren Weg. Doch nicht als Täter, lediglich als Chronisten verstehen sich die 1994 gegründeten Rammstein, die heiter Themen streifen, bei denen die meisten lieber wegschauen.

Doch ihre Koketterie mit belasteten Zeichen und geltenden Tabus, oft ins Groteske überhöht, wirkt länger schon vorhersehbar und bemüht. Und angesichts der Obszönität des russischen Krieges gegen die Ukraine wirkt jede aufwendig mit Theatermitteln angestrengte Provokation doch nur wie ein aufwendiger geborener Wind im Wald.

Rammstein - Topic

Erschwerend kommt aktuell der an sich nicht verwerfliche Umstand hinzu, dass die Band mit Wurzeln in der ehemaligen DDR in der Vergangenheit eine deutliche Zuneigung zu Russland und dessen Markt erkennen ließ. Zwar verurteilte die Band Putins Überfall auf die Ukraine. Doch noch vergangenen Herbst sang Lindemann in Moskau mit dem Orchester der russischen Nationalgarde ein Heldenlied aus jenen Sowjetzeiten, denen Putin heute in blutiger Melancholie nachhängt.

Hinter dem roten Vorhang

Andere Oden Lindemanns an die Schönheit Russland sind nur auf Pornoplattformen zu bestaunen: Für das vor zwei Jahren als Solokünstler veröffentlichte Lied Platz 1 drehte er in einem St. Petersburger Hotel ein Video, das angesichts seiner Deutlichkeit nur auf Pornokanälen unzensiert zu sehen ist. Dass beteiligte Frauen von moralisch hochstehenden Betrachterinnen und Betrachtern anschließend bedroht wurden, macht die Sache nicht sympathischer. Künstlerisch, wenn man so sagen möchte, trat Lindemann mit dieser Form von Sex-Positivity ein wenig am Stand.

Rammsteinsänger Lindemann nach der Maske zum Video Zick Zack.
Foto: Jens Koch

Schon für das Lied Pussy – "Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr" – auf ihrem Album Liebe ist für alle da aus dem Jahr 2009 drehten Rammstein einen Porno als Begleitfilm. Schon damals musste man im sittlich so gefestigten Internet hinter den roten Vorhang, um des Machwerks ansichtig zu werden. An derlei Wiederholungen erkennt man Abnützungserscheinungen, dennoch ist Sex auf dem neuen Album wieder ein Thema, wenngleich eher als Karikatur.

Blasmusik und "Dicke Titten"

Weiter hinten am Werk ertönt plötzlich eine Blasmusik, vor dem geistigen Auge tauchen Gamsbart und Dirndl auf. Zünftig und brunftig hebt Lindemann an, die Kapelle wird von Gitarrenriffs abgelöst, und er singt das Lied eines einsamen Mannes, der von einer Frau träumt: "Sie muss nicht schön sein, sie muss nicht klug sein, nein, sie muss nicht reich sein, kein Model mit langen Schritten – doch dicken Titten."

Dicke Titten heißt das Lied und wird bei den Burschen im Stadion bei der nächsten Welttournee ein Hit werden, ein Oktoberfest der guten Laune.

Rammstein Official

Im Vergleich zu dieser Gsungen-und-gspielt-Schnurre ist das beherrschende Thema des Albums ungleich düsterer. Zeit meint bei Rammstein nicht die neue Rolex am Handgelenk, die Vergänglichkeit ist gemeint. Dazu hat die Band für den Titelsong ein bildstarkes Video anfertigen lassen, das mit Bombast, Wucht und Schlagerweisheit die Endlichkeit besingt. Das Lied wird angesichts des Kriegs vielerorts als zeitgeistig bejubelt, die Vergänglichkeit ist in der Kunst dann doch eher ein Allerweltsthema, wenngleich ein düsteres.

Diesbezüglich bieten Rammstein wieder einiges, Titel wie Armee der Tristen, Schwarz oder Angst stecken das Terrain wertkonservativ ab, Riffs aus dem Magistrat für pragmatisierte Metallurgen, Sektion 1990er-Jahre, besorgen den Rest. Und statt "Schneller, höher, stärker!" heißt es im Lied Zick Zack "Schöner, größer, härter" – ein Musikkabarett zum Thema Schönheitswahn.

Die Provokation hat sich an dieser Stelle schon selbst zu Bett gebracht, die vielen Versuche, sie ermüden. (Karl Fluch, 26.4.2022)