Bionische Augenimplantate gehören zu den wohl beeindruckendsten medizinischen Fortschritten der letzten Jahrzehnte. Die Implantate arbeiten mit einer Kamera und Stimulation des Sehnervs. Dank ihnen können Menschen, die eigentlich klinisch als vollständig blind gelten, ihre Umgebung wieder optisch wahrnehmen.

Eine der Firmen, die in diesem Bereich tätig ist, ist Second Sight Medical Products. "Argus 1" und "Argus 2" heißen die Systeme, die man 2002 und 2006 entwickelt hat. Das durch sie ermögliche Sehen ist zwar nicht vergleichbar mit "normaler" optischer Wahrnehmung, doch das in 60 helle und dunkle Pixel übersetzte Videosignal liefert Trägern per Elektrostimulation einen in Grautönen gehaltenen Eindruck ihrer Umgebung.

Auch wenn dies mit "normalem" Sehen kaum vergleichbar ist und nicht für alle gleich gut funktioniert, kann es etwa die Orientierung oder das Wahrnehmen von Hindernissen stark erleichtern. Für Menschen, die durch Retinitis pigmentosa – eine Krankheit, bei der Fotorezeptoren der Netzhaut langsam degenerieren – erblindet sind, ist ein solches Implantat die einzige bekannte Lösung.

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Piepsen und Dunkelheit

2011 wurde Argus in Europa und zwei Jahre später in den USA für den praktischen Einsatz zugelassen. Mehr als 350 Menschen wurden über die Jahre hinweg mit Argus-Implantaten ausgestattet. Sie alle haben nun ein Problem. Ihre bionischen Augen sind de facto obsolet geworden. Denn Second Sight ist in finanzielle Turbulenzen geraten und hat den Support eingestellt. Den Betroffenen droht ein Rückfall in die Blindheit, erste Beispiele dafür gibt es schon.

"IEEE Spectrum" berichtet etwa von Barbara Campbell. Sie war unterwegs in der New Yorker Rushhour und gerade dabei, zwischen zwei U-Bahn-Linien umzusteigen. Sie wollte gerade eine Treppe hinabgehen, als sie plötzlich Piepsen hörte. Wo sie eben noch ihre Umgebung über Kontraste wahrnehmen konnte, war nun nur noch Dunkelheit. Ihr Argus-2-Retina-Implantat, das ihr geholfen hatte, seit sie in ihren 30ern aufgrund einer genetischen Vorbelastung erblindet war, hatte sich abgeschaltet. Sie sollte erst danach erfahren, dass Second Sight ihr bei ihrem Problem nicht mehr helfen würde.

Unternehmen informierte Patienten nicht

Auch zwei weitere Fälle werden dokumentiert, die auch einen fragwürdigen, intransparenten Umgang des Unternehmens mit seinen Kunden zeigt. Ross Doerr etwa war Anfang 2020 ein Software-Upgrade zugesagt worden, das eine Verbesserung der Wahrnehmung hätte bringen sollen. Er hatte sein Augenimplantat erst im Jahr zuvor erhalten und erinnert sich daran, wie er damit die Lichter der Weihnachtsbäume im Winter erkennen konnte.

Nach Ausbruch der Corona-Pandemie hatte er Gerüchte gehört, laut denen es Schwierigkeiten bei Second Sight gab. Er rief die Therapeutin an, die ihn im Namen des Unternehmens betreute. "Lustig, dass Sie genau jetzt anrufen. Wir sind alle gerade entlassen worden", richtete sie ihm aus. Und auch das versprochene Upgrade wurde nicht mehr geliefert.

Für ihn und die anderen Träger von Argus-Implantaten ist damit eine Zeit der Ungewissheit angebrochen. Das 1991 gegründete Unternehmen existiert zwar noch, stellte aber bereits 2019 die Entwicklung neuer Generationen des bionischen Auges ein. 2020 schlitterte man knapp an der Pleite vorbei, entließ den Großteil der Angestellten und bereitete einen Verkauf vor, ohne die eigenen Patienten über die Situation zu informieren. Auch für vorgesehene Nachfragen von Kliniken war man nicht mehr erreichbar. 2021 veräußerte man Unternehmensanteile. Zudem kündigte man die Entwicklung eines Hirnimplantats zur Wiederherstellung von Sehvermögen an.

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Der Aktienkurs stürzte dennoch um circa 70 Prozent ab, ehe man im vergangenen Februar schließlich eine Fusion mit dem Unternehmen Nano Precision Medical ankündigte, das selbst noch in der Frühphase der Entwicklung seiner Technologie steckt. Werden die Pläne umgesetzt, so wird nach der Zusammenführung niemand von Second Sight im Führungsteam übrigbleiben.

Obsolete Implantate mit Risiken

Second Sight selbst reagierte auf eine Anfrage von IEEE Spectrum ausweichend. Man sehe sich weiter "verpflichtet, neue Technologien zu entwickeln, um die größten Gruppen von Menschen mit Sehbehinderung zu behandeln".

In der Praxis bedeutet dies, dass die Argus-Implantate nun wohl als obsolet anzusehen sind. Solange diese einwandfrei funktionieren, können sich ihre Träger an ihnen erfreuen. Doch sobald ein Defekt auftritt, sind sie auf sich allein gestellt. Etwaige Reparaturen werden in den meisten Fällen nicht von anderen Firmen durchgeführt werden können. Defekte Implantate entfernen zu lassen ist zudem kostspielig. Gleichzeitig lassen sich verschiedene Untersuchungen, etwa ein Magnetresonanz-Scan des Kopfbereichs, nicht so einfach durchführen, solange sie im Körper verweilen.

Medizinische Probleme können auch immer wieder vorkommen. Zwischen 2007 und 2019 wurden in einer von der amerikanischen Medizinbehörde FDA veranlassten Untersuchung 30 Implantatsträger beobachtet. Dabei wurden insgesamt 188 "Zwischenfälle" registriert, 36 davon stufte man als schwerwiegend ein. Genauere Daten dazu wurden nicht genannt. In der öffentlichen Datenbank, in der schwere Komplikationen vermerkt würden müssen, finden sich 90 Einträge. In fast 80 Prozent der Fälle musste chirurgisch eingegriffen werden, um etwa Blutungen, zu niedrigen Augeninnendruck oder Netzhautablösungen zu behandeln.

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Die FDA weist allerdings darauf hin, dass Einträge in der Datenbank gedoppelt, fehlerhaft und unvollständig sein können. Die meisten Patienten dürften Argus aber ohne Probleme nutzen. Daten aus dem Jahr 2017 zeigen, dass bei 203 von 244 operierten Patienten in den zwei Jahren nach Implantation keine Komplikationen auftraten.

Schon die Implantation eines solchen Systems ist nicht günstig. Ein Patient beziffert die Kosten für das Gerät, die Operation und notwendige Sehtherapie auf rund 500.000 Dollar. Ein dicker Brocken, auch wenn 80 Prozent der Kosten meist von Krankenversicherungen gedeckt werden. Als Argus 2 noch am Markt war, wurde nur die Hardware selbst für 150.000 Dollar verkauft.

Vorzeichen

Für die Argus-Träger bleibt die Zukunft ungewiss. Der CEO von Nano Precision Medical, Adam Meldelsohn, sagt, dass er noch nicht wisse, welche vertraglichen Verpflichtungen das Unternehmen nach der Zusammenführung gegenüber ihnen haben werde. Man wolle tun, was "ethisch gesehen richtig" sei, gleichzeitig sei aber "die Vergangenheit nicht relevant für die neue Zukunft".

Die inoffizielle Pleite von Second Sight könnte auch ein Vorbote künftiger Entwicklungen sein. Sie ist auf jeden Fall eine Warnung. Denn Hightech-Implantate sind ein großer Hoffnungsmarkt in der Medizin. Investoren scharen sich um junge Firmen, die von Sehbehinderungen bis hin zu neurologischen Erkrankungen auf diese Weise verschiedenste Probleme therapieren wollen. Zu den bekannteren Vertretern gehört freilich Elon Musks Neuralink, das verspricht, per Hirnimplantat ein breites Spektrum an Therapiemöglichkeiten zu schaffen. (gpi, 26.4.22)