Muss nach dem Urteil in der Türkei lebenslang hinter Gitter: Kulturförderer Osman Kavala.

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Istanbul – Im Prozess gegen den international bekannten, seit viereinhalb Jahren inhaftierten Kulturmäzen Osman Kavala und weitere sieben Vertreter der Taksim-Bürgerinitiative sind am Montagabend die wie befürchtet harten Urteile gefällt worden. Das Gericht in Istanbul verurteilte Osman Kavala zu erschwerter lebenslänglicher Haft, die anderen Angeklagten, darunter die 70-jährige Mücella Yapıcı, zu 18 Jahren Gefängnis.

Wegen angeblicher Fluchtgefahr ließ das Gericht alle anwesenden Angeklagten noch im Gerichtsaal festnehmen und wie bereits Osman Kavala in Untersuchungshaft deportieren.

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Nach dem Urteil kam es vor dem Gerichtssaal zu Protesten.
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Das Verfahren gilt als wichtigster politischer Prozess der letzten Jahre. Es ist eine politische Abrechnung mit den landesweiten Protesten gegen den damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die sich 2013 am Istanbuler Gezi-Park entzündet hatten. Aus den damals ursprünglich lokalen Demonstrationen gegen die Abholzung eines kleinen Parks im Zentrum von Istanbul – dem Gezi-Park – hatte sich wegen des völlig unverhältnismäßig harten Einschreitens der Polizei in wenigen Tagen eine landesweite Protestbewegung entwickelt, die sich gegen die immer repressivere Herrschaft Erdoğans insgesamt richtete. Während einige Minister damals mit den Protestierenden sprechen wollten, setzte Erdoğan eine harte Haltung durch und ließ die Proteste gewaltsam niederschlagen.

Keine Beweise

Beweise für den angeblichen versuchten Staatsstreich, der den Angeklagten vorgeworfen wird, hatte die Staatsanwaltschaft nicht. Auch für die angebliche Finanzierung und Steuerung der Proteste durch die Angeklagten – Kavala soll auch noch im Auftrag ausländischer Mächte gewirkt haben – gab es keinerlei Beweise. Es ging allein darum, Rache für die Proteste von 2013 zu nehmen.

Insbesondere für den schon so lange inhaftierten Osman Kavala hatten sich auch international viele Menschen eingesetzt. Kavala, ein Unternehmer, der sein Geld unter anderem in die Kulturstiftung "Anadolu Kültür" gesteckt hat, die sich für die Minderheiten des Landes einsetzt, ist zum Symbol eines gewaltlosen Widerstands gegen Erdoğan geworden. Schon 2019 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Kavalas Entlassung aus der U-Haft gefordert, und im letzten Herbst hatten sich insgesamt zehn Botschafter westlicher Nationen, darunter die USA, Frankreich und Deutschland, für die Freilassung des Kulturförderers eingesetzt – ohne Erfolg.

Im völlig überfüllten Gerichtssaal hatte bis zuletzt die Hoffnung überwogen, Osman Kavala würde unter Anrechnung der viereinhalb Jahre U-Haft in einen Hausarrest entlassen. Als das Gericht vor der Urteilsverkündung jedoch den Saal räumen ließ, ahnten die meisten, dass jetzt eine harte Direktive aus dem Präsidentenpalast vollstreckt werden würde. Das Gericht, hatte Osman Kavala per Videozuschaltung aus der U-Haft in seiner letzten Stellungnahme gesagt, sei "kein legitimes Gericht". Sollte er zu lebenslanger erschwerter Haft verurteilt werden, sei das "ein politisches Attentat auf mich durch Präsident Erdoğan unter Benutzung der Justiz".

Tatsächlich hatte einer der drei Richter es gewagt, ein Sondervotum abzugeben, und einen Freispruch wegen Mangels an Beweisen gefordert.

Spontaner Protest

Nach der Urteilsverkündung gab es eine spontane Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude. Alle Beobachter des Prozesses kritisierten das Urteil als rein politisch motiviert. Von Amnesty International über Human Rights Watch bis zu den Regierungen der USA, Deutschlands und der EU-Kommission wurde das im Auftrag Erdoğans erfolgte Urteil scharf kritisiert. Kristian Brakel, Vertreter der Böll-Stiftung in Istanbul, sagte, das Urteil sei "ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die noch eine Resthoffnung auf den türkischen Rechtsstaat hatten".

Viele hoffen nun darauf, dass Erdoğan nach den Wahlen im kommenden Jahr sich als Ex-Präsident für seine Taten selbst vor Gericht verantworten muss. "Wenn wir die Wahlen gewinnen, werden wir ihn zur Verantwortung ziehen ", sagten Vertreter der Oppositionsparteien.

International könnte Erdoğans Türkei bald ganz offiziell als Unrechtsstaat gebrandmarkt werden. Der Europarat hat wegen der Missachtung des Menschenrechtsgerichtshofs ein Ausschlussverfahren gegen die Türkei eingeleitet. Das Urteil dürfte das Verfahren nun beschleunigen. Noch in der Nacht auf Dienstag wurde an verschiedenen Orten der Türkei demonstriert. Für Dienstagabend ist in Istanbul eine große Kundgebung geplant. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 26.4.2022)