Vom Wetter über Erdbeben und Infektionsdynamik bis hin zum Sportereignis: Prognosen spielen im Alltag nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie eine bedeutende Rolle.

Illustration: Fatih Aydogdu

Regelmäßig boten die letzten zwei Jahre Gelegenheit, um über wissenschaftliche Prognosen zu lästern. Expertinnen und Experten sagten Ansteckungsverläufe voraus, die sich drastischer ausnahmen, als die Wirklichkeit ausfiel, oder umgekehrt zu optimistisch waren. Dieser Umstand sorgte teils für Schulterzucken, teils für Spott und Häme. Die Wissenschaft habe keine Ahnung oder übertreibe die Gefahr bewusst.

Aussagen dieser Art liegt ein Missverständnis darüber zugrunde, was Prognosen sind, was sie vermögen und was eben nicht. So erheben sie etwa nicht den Anspruch, ein mit hundertprozentiger Sicherheit eintretendes Szenario auszugeben. "Wir prognostizieren nie einen einzigen Wert, sondern eine Bandbreite", sagt die Komplexitätsforscherin Jana Lasser. Im Verlauf der Corona-Pandemie beschäftigte sich Lasser an der TU Graz mit der Frage, wie etwa ein sicherer Schulbetrieb gewährleistet werden kann.

Als Werkzeuge, um gesundheitsrelevante Aussagen treffen zu können, nutzt die Physikerin Modelle, Simulationen sowie Statistiken. Zuerst bildet sie in Computermodellen einen gewissen Status quo ab und erweitert diesen um relevante Parameter – etwa die Größe einer Schulklasse, die Infektiosität gewisser Mutationen, aber auch Maßnahmen wie reduzierte Kontakte. Dann spielt Lasser mehrere Tausend oder Zehntausend Szenarien durch. Gesammelt in einer Statistik werden sie interpretiert. Aus dieser Interpretation lassen sich schließlich Prognosen über den Verlauf der Pandemie ableiten.

Komplizierte Gegenwart

Selbst unter Zuhilfenahme ausgeklügelter Prognosemodelle, mathematischer Gleichungen, gefinkelter Simulationen und umfassender Statistiken lässt sich die Zukunft keinesfalls all ihre Geheimnisse entlocken. So geschieht es, dass die Gesetzmäßigkeiten eines Systems zwar bestens bekannt sind, dessen Verhalten aber trotzdem nicht vorhergesagt werden kann. Die Schwierigkeit betrifft dabei nicht die Zukunft, sondern die Abbildung der Gegenwart.

Die Beschreibung des Status quo bildet die Ausgangsbasis von Prognosen, gleichzeitig aber auch eine ihrer Schwachstellen. Meist verlangt eine Vorhersage unmöglich konkrete Daten über den Istzustand eines Systems. Kleinste Ungenauigkeiten sowie herrschende Wissens- oder Informationslücken können große Ungenauigkeiten ergeben, wenn auf dieser Basis Ereignisse simuliert oder Daten extrapoliert werden.

Was sich während der Corona-Pandemie allerdings verstärkt zeigte und ebenso stark kritisiert wurde, waren prognostizierte Infektionsgeschehen, die dann nicht im vorhergesagten Umfang eintrafen. Hier stellt sich einerseits die Frage, wie akkurat Prognosen überhaupt sein und werden können, andererseits fragt sich, wie Abweichungen zwischen vermuteten und realen Pandemiedynamiken entstehen. Komplexitätsforscherin Lasser reagiert einigermaßen überraschend auf diese Fragen. "Es ist gut, wenn die Prognose nicht eintrifft", lacht sie.

Mit welchen Verhaltensweisen Menschen auf Prognosen reagieren, nimmt enormen Einfluss darauf, ob sie zutreffen oder nicht.
Foto: Imago/Michael Gstettenbauer

Wünschenswerte Verfehlung

Zur Erklärung: Menschen reagieren mit einem bestimmten Verhalten auf Prognosen, sagt Lasser. "Dementsprechend weicht die Realität von der Prognose ab." Letztere gehe stets davon aus, dass alles so bleibe wie angenommen. Bekämen Menschen jedoch Informationen, an denen sie sich orientieren können, führt genau dieses Verhalten dazu, dass sich der Istzustand ändert. Reagieren Bürgerinnen und Bürger etwa mit dem Tragen von Masken oder dem Einhalten eines Mindestabstands auf Prognosen, wirkt dieses Verhalten auf den Verlauf der Ansteckungen. Durch diese adaptierten Verhaltensweisen treffe die Vorhersage dann eben nicht ein. In diesem Zusammenhang ist auch die Rede von der selbstzerstörerischen Prophezeiung.

Wer sich also fragt, warum gewisse Prognosen so überhaupt nicht in der Wirklichkeit ankommen wollen, kann über die eignen Reaktionen auf gewisse Vorhersagen reflektieren. Eines gibt Lasser darüber hinaus zu bedenken: "Es gibt immer Schwankungsbreiten, und wir können nur ein Fenster voraussagen, in dessen Rahmen sich die Realität abspielen wird."

Zum Scheitern verurteilt

Letztlich ist eine Vorhersage stets eine bedingte Aussage. Begrenzt durch jene Annahmen, die für ihre Erstellung getroffen werden. Und diese Annahmen lassen sich nie vollständig kontrollieren. Besonders, wenn es um die wohl größte Unbekannte geht: das menschliche Verhalten. Nicht nur, aber auch in der Ökonomie gehen Modelle meist von vernunftbasiert handelnden Menschen aus. Doch Rationalität ist bei weitem nicht die einzige Größe, die für Entscheidungen herangezogen wird.

Da spielen auch das vielzitierte Bauchgefühl, Emotionen generell, der individuelle Medienkonsum oder Informationsstand, individuelle Ansichten oder Einstellungen hinein. Teils handeln deshalb auch Profis im Feld der Prognostik nicht immer gänzlich rational. Geht es etwa um die Vorhersage negativ behafteter Ereignisse, zeigen sich Expertinnen und Experten in ihren Prognosen zuweilen recht konservativ.

Fallen, steigen, stagnieren? Wie sich Börsenkurse entwickeln, hängt teils mit den Erwartungen von Anlegerinnen und Anlegern zusammen. Das Phänomen der selbsterfüllenden Prophezeiung spielt eine nicht zu vernachlässigende Rolle.
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Speziell im Wirtschaftssektor gesellt sich von Zeit zu Zeit das Phänomen der selbsterfüllenden Prophezeiung dazu. Geht es etwa um fallende Aktienkurse, kann allein ein Gerücht über ebendiese einen Kursverfall bedingen: Rechnen Menschen mit einer bevorstehenden Entwertung gewisser Aktien, kann diese kippende Stimmung zu massenhaften Verkäufen und damit wahrhaftig zu einem Kurseinbruch führen.

Elementarer Leitfaden

Auch angesichts einiger Einschränkungen bilden Vorhersagen dennoch eine hilfreiche und wichtige Richtschnur für Entscheidungen. Egal ob es sich dabei um einen wetterabhängigen Wochenendausflug, um Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung oder um Schritte zur Eindämmung des Klimawandels handelt. Gänzlich uninformiert ins Blaue hinein entscheiden oder Strategien ausarbeiten zu müssen, wäre wohl ungleich schwieriger als mit wissenschaftlicher Orientierungshilfe an der Hand. (Marlene Erhart, 3.5.2022)