Ganz einfach: Ich hatte keine Lust. Zumindest im Vorfeld. Aber natürlich änderte sich das, als Wien am Sonntag – eigentlich ja schon Freitag und Samstag – zur Laufstadt wurde. Als dieses Vibrieren, diese Spannung in der Luft lag. Als dieses Grinsen in 1.000 Gesichtern auftauchte: Stadtmarathon. Heimmarathon. Der Marathon, der (früher tatsächlich, nun fast) am Küchenfenster vorbeiführt. Auf einer traumhaften Site-Run-Strecke – durch eine gespenstisch anders klingende Stadt.

Ich kenne den VCM. Läuferisch: mehrfach ganz, halb und gestaffelt. Eine große Liebe. Journalistisch? #esistkompliziert. Heuer nicht zu laufen hat damit aber nichts zu tun: Ich hatte einfach keine Lust. Vorher. Aber der Blick auf die volle Reichsbrücke triggerte dann natürlich doch.

Foto: Tom Rottenberg

Das Gute am Nicht-selbst-Laufen: Man kann zuschauen. Und anfeuern. Weil es – Läuferinnen und Läufer wissen das – nicht wurscht ist, ob man mutterseelenallein im Pulk durch Häuserschluchten rennt oder ob einen eine Wolke aus Jubel vom Straßenrand trägt. Weil da jemand ist. Jemand, der klatscht. Auf Töpfe oder sonst was haut. Boxen aufs Fensterbrett stellt. Oder schreit.

Foto: Tom Rottenberg

Egal, wie blöd, egal, wie sinnfrei das sein mag: "Du schaust super aus" ist nicht erst bei Kilometer 38 meist eine Lüge – aber eine, die man gerne schluckt. Auch rund um Kilometer 12 stört sie niemanden: Die Führenden schauen tatsächlich gut aus – und bekommen sie ohnehin nicht mit.

(Im Bild: der Führungspulk mit dem späteren Sieger Cosmas Matolo Muteti (M6))

Foto: Tom Rottenberg

Aber weiter hinten, sogar noch lange vor dem großen, dichten Pulk der "Normalos" wird das schon wahrgenommen – und meist mit einem Lächeln goutiert: Wer lächelt, läuft leichter. Das gilt auch für die Schnellen.

Obwohl Emil Zatopek einst sagte: "Ich bin nicht talentiert genug, um beim Laufen auch noch zu lächeln."

(Im Bild: Andreas Vojta vor Timon Theuer)

Foto: Tom Rottenberg

Anfeuern beflügelt. Weil Schilder, Slogans, Rufen und die Party am Streckenrand denen, die da rennen, eine kleine Geschichte erzählt. Eine Heldengeschichte. Natürlich auch eine Heldinnengeschichte: "Ihr seid Helden!" Weil ihr euch das antut. Zutraut. Weil ihr es überhaupt versucht. Etwas, das für Nichtläufer und Nichtläuferinnen unvorstellbar ist. Etwas, das allen, die es schon taten, Respekt abverlangt. Egal, wie schnell oder langsam man ist.

(Im Bild: die spätere Siegerin Vibian Chepkirui)

Foto: Tom Rottenberg

Anfeuern ist einfach. Sollte man meinen. Und das ist es im Grunde ja auch. Weil jeder und jede Läuferin diesen Applaus, diese Aufmunterung verdient, findet jeder Jubel, jedes Klatschen, seine oder ihre Empfängerin – und erwischt nie den oder die Falsche.

Und wenn man am Streckenrand keine Lust mehr hat, wenn den Kindern fad und den Erwachsenen kalt wird, geht man eben wieder heim.

(Im Bild: die im Ziel zweitbeste Österreicherin, Carola Bendl-Tschiedel)

Foto: Tom Rottenberg

Nachvollziehbar. Und natürlich auch legitim. Aber: Was ist mit denen, die jetzt noch kommen? Die sich wie ein immer dicker und kompakter wirkender, sich tatsächlich aber mehr und mehr in die Länge ziehender Wurm die Strecke entlangwälzen? Die dann, wenn die Führenden, die Elite, die Kameramotorräder, die Helikopter und Begleit-Bikes, also die große Aufmerksamkeit, auf der Wienzeile schon lange durch, an Schönbrunn längst vorbei sind, oft noch nicht einmal aus dem Prater raus sind – und immer noch zur schnelleren Hälfte des Bewerbs gehören?

Haben die nicht auch, haben nicht alle Applaus und Zuspruch verdient – und vielleicht ja auch nötiger – als die Spitze?

(Bildmitte: mein Vereinsbuddy Joen)

Foto: Tom Rottenberg

Erst recht an den weniger attraktiven Ecken. Klar, an den Hotspots, bei Start und Ziel, bei der Oper und an ein paar Schlüsselstellen, stehen die Zuschauer dicht an dicht. Am Anfang sowieso – und zum Schluss hin dann zumindest noch halbwegs.

Aber sonst? Wien hat da Luft nach oben. Höflich, sehr höflich formuliert. Nicht nur im Vergleich mit den ganz, ganz großen Läufen bei den Bis-zum-letzten-Athleten-anfeuerverrückten-Amis in New York, Boston oder Chicago: In Berlin spielen – heißt es – mehr als 100 Bands an der Strecke. Und da sind private Soundsysteme, Picknicks und Balkonpartys nicht mitgezählt.

Foto: Tom Rottenberg

Ganz abgesehen davon verlassen sich laufende Freunde, Angehörige und Vereinskollegen und Vereinskolleginnen ja darauf, dass man da ist – ihnen hier zuwinkt und lacht. Und diese kleine Extraportion Motivation für sie bereithält. Die sie – eh klar – in Wirklichkeit eh nicht brauchen, die aber trotzdem alles andere als stört.

Spätestens da wird Anfeuern echte Arbeit: Schauen Sie mal einer gut zwei Stunden nonstop auf Sie zurollenden Welle an Läuferinnen und Läufern entgegen – und versuchen Sie, jemanden zu erkennen.

Foto: Tom Rottenberg

Klar, das Kaninchen, den Mann, der eine Ananas auf dem Kopf balanciert (er läuft fast jedes Jahr mit), oder die beiden Mozarts "spotten" Sie. Weil die aus der Menge herausstechen. Aber sonst? "Meiner ist der mit den Turnschuhen", erklärte eine Freundin in Berlin einst einem Passanten, als der fragte, wie sie mich denn erkennen wolle.

Wir fanden einander trotzdem. Sogar mehrmals. Weil ich, der Läufer, genau wusste, wo ich nach ihr, der Zuschauerin, Ausschau halten musste – und sie mit Pompons wedelte.

In Wien, auf der Wienzeile, genügt die In-etwa-Angabe. Man braucht keine Pompons. Leider.

(Im Bild: meine Vereinskollegin Silvia – jubelnd – hinter ihrer besten Freundin Elisabeth.)

Foto: Tom Rottenberg

Aber irgendwann – lange nachdem die leider einzigen Pacemaker für "Normalos" beim VCM (die nicht vom Veranstalter, sondern von Tony’s Laufshop gestellt werden) durch sind – dünnt das Feld dann aus.

Der Anteil der Gehenden wird immer größer. Der der Langsamer-als-gehend-Laufenden auch. Ein Blick auf die Startnummer: Es kommen jetzt fast nur noch Halbmarathonies und Staffel-"Läufer" und -"Läuferinnen".

Klar haben die sich überschätzt. Sich selbst "abgeschossen", weil sie – der Anfängerklassiker – zu schnell losrannten. Oder aber irgendwas ging massiv schief.

(Im Bild: die legendären Tony-Pacer und (weißes Shirt und Brille) Peter Luegmaier, der frühere Tony-Mitarbeiter und nunmehrige Betreiber des St. Pöltener Laufschuhladens Lauflupe)

Foto: Tom Rottenberg

In New York, aber auch in Köln oder Berlin wäre der Gehsteig noch mindestens halbvoll. In Wien, vorn, bei der Pilgramgasse, steht nur noch eine Polizistin neben einem Motorrad-Cop. Sie plaudern mit Passanten, warten auf die allerletzten Läufer und Läuferinnen. Mienen und Gesprächsthema changieren zwischen Respekt, Mitleid und der Frage, ob es vernünftig ist weiterzulaufen: Hier ist etwa Kilometer 12,5 – von (zumeist) 21. Und das Rennen wurde schon vor mehr als zwei Stunden gestartet.

Foto: Tom Rottenberg

Nur: Hier und jetzt ist das egal. Ist egal, ob es nicht vielleicht schlauer gewesen wäre, nicht heute, sondern erst in einem viertel oder halben Jahr mit strukturierter und überlegter Vorbereitung die vermeintlichen "Jedermensch-Distanzen" Halbmarathon oder Staffelteil in Angriff zu nehmen.

Wer jetzt hier ist, ist nämlich hier. Will, wird hoffentlich auch ankommen. "Du schaffst das – bist schon weit über der Hälfte. Also: Mundwinkel hoch – das hebt die Knie." Natürlich ist das idiotisch. Aber: Was wirkt, das gilt. Und hilft. Zumindest für die nächsten 100, 200 Meter. Immerhin.

Foto: Tom Rottenberg

Dann kommt nur noch der "Besenwagen". Meist ist es tatsächlich ein oranger Müllwagen der MA 48, hier aber gerade ein kleiner Konvoi im Sub-Schritt-Tempo. Mittendrin ein Rettungswagen: Solange der ohne Blaulicht dahin schleicht, ist alles in Ordnung.

Hinter dem Konvoi ist das Rennen vorbei, ist man aus der Wertung. Müsste eigentlich auf den Gehsteig.

Foto: Tom Rottenberg

Eigentlich. Denn da hinter dem Konvoi kommen immer noch ein paar Läuferinnen und Läufer.

Der Motorradcop ist weg. Die Polizistin wurde abgelöst.

"Nicht aufgeben!", ruft ihr Kollege.

Der letzte Läufer, ein älterer Mann, hebt den Kopf: "Aufgeben? Das Wort kenne ich nicht."

Ein Passant, der Polizist, ich – wir klatschen.

Der Mann geht weiter. Nicht schneller, aber doch anders:

Er lächelt.

Und nur das zählt. (Tom Rottenberg, 26.4.22)


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