Die Laudationes auf die Concordia-Preisträgerinnen im Wortlaut Wir bringen hier die Reden von Armin Wolf über Paul Lendvai, von Melita Šunjić über Christa Zöchling und von Cathrin Kahlweit über Martin Thür im Wortlaut.
Armin Wolf über Paul Lendvai: "Sich stets an den Weltbesten messend"
"Lebende Legende" Paul Lendvai.
"Ich muss ja gestehen, dass ich durchaus überrascht war, als mich Paul Lendvai vor einigen Wochen gefragt hat, ob ich die Laudatio auf ihn heute halten würde.
Freudig überrascht, weil das natürlich für mich die weit größere Auszeichnung ist als für ihn. Überrascht aber auch, weil ich mir dachte: Wie oft kann man eigentlich den Concordia-Preis fürs Lebenswerk kriegen? Ich war nämlich ganz sicher, dass Paul Lendvai den schon hat. Und zwar schon länger.
Ich meine: Der Mann hat 1974 den Renner-Preis bekommen – der damals noch was wert war – und das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik.
1974 – da war Martin Thür noch acht Jahre lang nicht auf der Welt.
Und Paul Lendvai war bereits ein sehr berühmter Journalist. Aber da war er noch nicht mal bei der Halbzeit.
'"Praktisch jeder Preis" Seither wurde ihm – völlig zu Recht – praktisch jeder Preis, Titel und Orden verliehen, den dieses Land für Menschen aus unserem Gewerbe zur Verfügung hat, vom Professor über den Staatspreis für Kulturpublizistik oder den Ehrenpreis des Buchhandels bis zum Horst-Knapp-Preis für Wirtschaftsjournalismus. Mutmaßlich ist er der einzige Mensch, der den Bruno-Kreisky- und den Alois-Mock-Preis bekommen hat. Dazu noch Ehrungen in Deutschland, Polen, natürlich in Ungarn (als Orbán gerade mal nicht Regierungschef war). Und 2019 wurde er auch noch 'Europäer des Jahres'.
Mit dem heutigen Tag ist er endgültig 'ausdekoriert' – nur den Paul-Lendvai-Preis hat er noch nicht. Der wurde tatsächlich vor wenigen Wochen erstmals vergeben, bescheidenerweise aber nicht an ihn.
"Großer Publizist des 20. Jahrhunderts" Dass Paul Lendvai in Österreich ein berühmter Journalist wurde – ja, einer der 'großen Publizisten des 20. Jahrhunderts', wie niemand Geringerer als die NZZ über ihn schrieb –, das war aber keineswegs ausgemacht.
Er galt zwar in Ungarn als eine Art journalistisches Wunderkind und schrieb schon mit 18 in der Parteizeitung Szabad Nép und danach bei der Nachrichtenagentur MTI. Doch schon mit 23 musste er aus politischen Gründen acht Monate in Haft, danach folgten drei Jahre Berufsverbot. Und als er 1957 über Prag nach Wien flüchtete, kannte er hier zwar Hugo Portisch, aber kaum ein Wort Deutsch. Das Zweite war vielleicht nicht die ganz ideale Voraussetzung für unseren Beruf.
Anfangs schrieb er noch unter Pseudonymen, um seine Mutter in Ungarn nicht zu gefährden: György Holló hieß er und Árpád Becs und für englischsprachige Zeitungen Paul Landy. Er schrieb vor allem für die Presse und für die NZZ, und schon nach drei Jahren, ab 1960, war er Osteuropa-Korrespondent des Weltblatts Financial Times, der er zwanzig Jahre lang blieb.
Wir alle kennen Paul Lendvai aber aus dem Fernsehen, wo ihn Gerd Bacher erst als Kommentator holte und ihn dann ab 1982 als Chefredakteur eine eigene Osteuropa-Redaktion aufbauen ließ, in der so fantastische Journalistinnen und Journalisten wie Barbara Coudenhove, Susanne Scholl oder Fritz Orter gearbeitet haben. Und die für die sowjetische Iwestija und für die TASS ein Hort 'antikommunistischer Propaganda' war.
"Schreien, wenn wir Böses sehen" 'Unsere Aufgabe ist es zu schreien, wenn wir etwas Böses sehen. Man darf nicht schweigen', hat Lendvai mal gesagt. Und an anderer Stelle: 'Man muss aussprechen, was Sache ist. Mein Motto ist ein Zitat von Marx: De omnibus dubitandum est – an allem zweifeln.' Als Chef der Osteuropa-Redaktion hat uns Paul Lendvai die Terra incognita hinter dem Eisernen Vorhang erklärt und hat uns diese gleichzeitig benachbarten und damals doch so weit entfernten Länder auch nahegebracht – mit seiner Erfahrung, seinem Wissen, aber auch mit seiner unverwechselbaren Stimme und seinem Akzent, den er wie Henry Kissinger im Englischen bis heute nicht verloren hat.
1974 hat er – quasi nebenbei – die Europäische Rundschau gegründet und bis 2020 als Chefredakteur geführt. Dass diese kluge, international beachtete Vierteljahresschrift mangels Finanzierung ihren 50. Geburtstag nicht mehr erleben konnte, war eine seiner großen beruflichen Enttäuschungen und ist objektiv eine Schande.
Ach ja, Bücher hat er auch noch geschrieben. Wie viele, ist nicht ganz sicher – offiziell sind es 19, auf Wikipedia stehen 20, erschienen sind einige davon auch in Englisch, Französisch, Ungarisch, Slowakisch, Tschechisch, Polnisch, Kroatisch, Slowenisch und Estnisch, zwei auf Japanisch und eines auch in Hebräisch. Ich kenne auf Deutsch nicht alle, aber definitiv empfehlen kann ich Ihnen die aktuellste Version seines Ungarn-Buchs, den autobiografischen Interview-Band 'Leben eines Grenzgängers' und 'Mein Österreich'.
"Zähle Jahre erst, seit ich in Wien bin" Paul Lendvai ist ja von Geburt jüdischer Ungar – aber aus Überzeugung und mit Enthusiasmus Österreicher: 'Ich zähle die Jahre erst, seit ich in Wien bin. Ich verdanke diesem Land alles', hat er einmal erzählt.
Und dieses Land verdankt ihm seit sechs Jahrzehnten einen Journalismus, den es hierzulande viel zu wenig gab und gibt: das Gegenteil von provinziell und auf sich selbst konzentriert. Sondern weltoffen, weitblickend, international, sich stets an den Weltbesten messend und nicht am Kollegen, der am nächsten Schreibtisch sitzt. Da war sein letzter Job vor der formalen ORF-Pensionierung nur passend: Intendant von Radio Österreich International.
24 Jahre später ist er unverändert fleißig, unermüdlich neugierig und wie eh und je voller Leidenschaft. Nach wie vor schreibt er regelmäßig eine stets lesenswerte Kolumne im STANDARD. Kein Kommentator im Land sieht die Entwicklungen im Osten Europas kompetenter, klüger und klarer. Und es gibt vielleicht keinen passenderen Zeitpunkt, einem Publizisten einen Preis für sein Lebenswerk zu verleihen, der drei Jahrzehnte lang über den Kalten Krieg berichtet hat, danach gut 30 Jahre lang über das angebliche 'Ende der Geschichte' und jetzt über eine neue 'Zeitenwende' – über die Rückkehr der Geschichte nach Europa.
"Putin ist der Zerstörer Europas" 'Putin ist der Zerstörer Europas' – darüber sind wir uns heute alle einige, nur: Lendvai hat diesen Satz schon vor Jahren gesagt.
Heute ist er – soweit ich das feststellen konnte – der älteste noch regelmäßig aktive Fernsehmoderator der Welt. Alle paar Wochen präsentiert Paul Lendvai das Europastudio, ein gänzlich unmodernes und deshalb umso klügeres Stück Fernsehen. Ein paar gescheite Menschen aus den verschiedensten Ländern Europas sitzen bei einem in der Regel noch gescheiteren Moderator und diskutieren über die wirklich relevanten Themen unserer Zeit. Wer dabei zuhört, ist danach ebenfalls gescheiter – und viel mehr kann man von einer Stunde Fernsehen ehrlich nicht erwarten.
'Denken Sie nie ans Aufhören?', wurde Paul Lendvai vor zwei Jahren in einem Interview zu seinem 90. Geburtstag gefragt. 'Nie. Ich schaue immer in die Zukunft', hat er geantwortet. Und das ist gut so.
Wenn ein publizistisches Lebenswerk einen Preis verdient, dann dieses. Herr Professor, Herzlichen Glückwunsch!"
Melitta Šunjić über Christa Zöchling: "Hässlicher Flüchtlingspolitik Spiegel vorgehalten"
Christa Zöchling (Profil).
Foto: Picturedesk/Martin Juen
"In der Kategorie Menschenrechte erhält Christa Zöchling vom Profil einen Preis für eine Reportage, die sich wie ein Thriller liest.
Lapidar heißt es im Lead:
Nach 9 ½ Wochen versteckt in einem Keller in Kabul sind eine Richterin und ihre Familie den Taliban entkommen. Christa Zöchling über eine Flucht, bei der viele mitgeholfen haben. Die österreichische Regierung war nicht dabei.
Aber Christa Zöchling war dabei, und es wurde eine spannende Geschichte über eine afghanische Familie von intellektuellen Schwestern und deren behinderten Bruder, über die Lage nach der Machtübernahme durch die Taliban und über die europäische Flüchtlingspolitik.
Exzellent recherchiert. Exzellent geschrieben.
Man fiebert mit, obwohl man ja schon im Vorspann über den glücklichen Ausgang informiert wurde. Schon für das Verfassen so eines Artikels verdient sie den Concordia-Preis.
Aber Christa Zöchlings Rolle hier war weit bedeutender und weit entscheidender als die einer Journalistin.
Paradoxerweise gebührt ihr also der Preis auch dafür, dass sie nicht wie eine Journalistin gehandelt hat, dass sie 'in dieser Situation nicht einfach zur journalistischen Tagesordnung übergehen' konnte.
Die herkömmliche Rollenverteilung zwischen Journalismus und Politik geht ungefähr so:
Journalistinnen und Journalisten beobachten und beschreiben die Realität. Sie schildern die Probleme, bilden Wirklichkeit ab.
Keine distanzierte Beobachterin Die Politik ist es, welche die Wirklichkeit verändert. Nicht selten wird das angestoßen durch die Macht der Medienöffentlichkeit. Aber letztlich ist sind es doch die Politiker, welche eingreifen und handeln, während die Journalisten sich mit der Rolle von Chronisten begnügen.
Hier war das nicht der Fall. Christa Zöchling blieb keine distanzierte Beobachterin. Sie wurde zur Akteurin.
Als sie erfasste, in welcher Gefahr sich ihre Interviewpartnerin in Kabul befand, griff sie zum Telefon und setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um sie und ihre Geschwister zu retten.
Sie machte sich zum Anwalt der Familie. Christa Zöchling war befangen. Nach herkömmlichen journalistischen Standards ist das ein Kardinalfehler!
Ich zitiere aus den 'Spiegel Standards':
Nähe ist manchmal nötig für unsere Geschichten, um exklusive oder andere Informationen zu erhalten oder möglichst dicht an die Figur und ihre Geschichte heranzukommen.
Nähe ist aber gefährlich. Dessen müssen wir uns immer bewusst sein. Wir können Verständnis für die schwierige Lage von Protagonisten zeigen, aber wir beraten sie nicht.
Wir 'therapieren' nicht oder werden gar zu deren Verbündeten. Wir wahren professionelle journalistische Distanz.
Solche Standards haben ihre volle Berechtigung, wenn es um Nähe zu Parteien oder Interessengruppen geht. Aber bei existenziellen Notlagen und bei Menschenrechten verlieren sie ihre Gültigkeit.
Natürlich helfen! Soll etwa ein Fotoreporter, der einen Herzinfarkt bei einem Menschen live erlebt, einfach dessen Sterben für die Nachwelt abbilden? Oder soll er die Kamera weglegen und mit der Wiederbelebung anfangen? Natürlich Letzteres.
Christa Zögling hat getan, was sie als Mensch für ihre Pflicht erachtete. Aber mit journalistischer Akribie hat sie jeden Schritt dokumentiert. Sie hat die Leserinnen und Leser nicht über ihre Doppelrolle im Unklaren gelassen, auch wenn sie sie in ihrer bescheidenen Art sehr heruntergespielt hat.
Wir haben damals telefoniert, und sie war verzweifelt. Ob der Gefahr für die Betroffenen und der Indolenz der österreichischen Politik.
Sie kontaktierte das Büro des Vizekanzlers: keine Reaktion. Das Büro des Außenministers: keine Reaktion.
Dafür der Stehsatz für die Medien: Österreich habe genug getan und werde keine weiteren Flüchtlinge aus Afghanistan ins Land lassen.
Der Wiener Bürgermeister sprach sich zwar öffentlich für die Aufnahme exponierter afghanischer Frauenrechtlerinnen aus. Doch nur Bundesbehörden können eine Einreise genehmigen, nicht ein Landeshauptmann.
Bekannte und Kolleginnen bescheinigen Christa Zöchling, dass sie für ihre Geschichten brennt. Wenn sie was tut, dann 120-prozentig, so auch hier.
Sie setzte eine Rettungskette in Bewegung, die ihresgleichen sucht. Sie mobilisierte – direkt oder indirekt – Alice Schwarzer, Richterkolleginnen der Betroffenen, eine US-Senatorin und den luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn sowie belgische und deutsche Politikerinnen und Diplomaten.
Heft des Handelns 'Die Profil -Story hat eine fieberhafte Rettungsaktion ausgelöst', schreibt Frau Zöchling in ihrem Artikel.
In Wirklichkeit war sie es, welche die Rettungsaktion lostrat, die schließlich erfolgreich endete: mit einer Evakuierung nach Luxemburg samt persönlicher Begrüßung durch den Außenminister – den luxemburgischen!
Frau Zöchling erhält die höchste journalistische Auszeichnung im Lande also auch dafür, dass sie ihre Rolle als Journalistin verlassen hat.
Weil die übliche Rollenverteilung zwischen Journalismus und Politik in Flüchtlingsfragen in Österreich nicht funktioniert, hat sie das Heft des Handelns in die Hand genommen. Sie trat in Aktion, als die österreichische Regierung sich weigerte, das zu tun.
Und damit hat sie quasi als 'Beifang' zu dieser Reportage über ein menschliches Drama und der Rettungsaktion eine dritte, eine besonders wichtige, ja eine urjournalistische Leistung vollbracht.
Sie hat der hässlichen, verwerflichen, ungerührten österreichischen Flüchtlingspolitik gegenüber Afghanen einen Spiegel vorgehalten. Sie hat sie entlarvt und demonstriert, dass es auch ganz anders geht.
Für diese dreifache Leistung ist ihr zu heute danken!
Herzlichen Glückwunsch zum Concordia-Preis, liebe Frau Zöchling."
Cathrin Kahlweit über Martin Thür und die Informationsfreiheit: "Da riecht es nach Korruption"
ORF-Journalist Martin Thür.
Foto: APA/ORF/Thomas Ramstorfer
"Ich möchte, so viel Zeit muss sein, vorab der großartigen Christa Zöchling und meinem verehrten Freund Paul Lendvai gratulieren.
In Zöchlings preisgekrönter Arbeit geht es um das brutale Ende einer dysfunktionalen Demokratie, die von alten Clanstrukturen geprägt war. Und in Lendvais eindrucksvollen Lebenswerk geht es um den Aufbau von neuen Clanstrukturen, die beschönigend 'illiberale Demokratie' genannt werden.
Aber immer, immer geht es um den Verlust von Freiheit.
Als wäre Belogenwerden eine Befreiung Weshalb ich, bevor ich über Martin Thür spreche, erst einmal, sorry, über Wladimir Putin und Viktor Orbán sprechen muss.
Vor wenigen Wochen noch hätten wir uns alle in diesem Raum nicht träumen lassen, wie schnell in Russland die letzten Reste der Presse- und Meinungsfreiheit abgetötet werden. 'Ausländische Agenten' wurden zu Staatsfeinden, Journalisten zu Flüchtlingen, kritische Webseiten zu verbotener Ware. Eine Autokratie wurde zu einer Diktatur.
Am meisten aber schockiert mich persönlich, die ich mich seit 40 Jahren mit Russland befasse, die Begeisterung, mit der sich so viele Russen dem Schweige-Gebot unterwerfen. Als wären Nichtwissen und Belogenwerden eine Befreiung. Weil sie die Scham und die moralische Pflicht zum Widerstand aushebeln, die ja auch in Russland durchaus gelebte Geschichte waren.
Vor wenigen Wochen hätten viele von uns sich wohl auch nicht träumen lassen, dass Viktor Orbán die Parlamentswahl in Ungarn so eindeutig gewinnt – auch wenn notorische Pessimisten wie Paul Lendvai und ich uns sicher waren, dass das so kommen musste.
Einer der Gründe dafür ist die gewollte, die geplante Einschränkung der Pressefreiheit. Und wieder schockiert mich, die ich seit zehn Jahren über Ungarn schreibe, die Gleichmut, mit der so viele Ungarn die Propaganda, die Fake News hinnehmen, obwohl es doch Zeiten gab, in denen es anders war. Und weil sie doch wissen müssten, was da verlorengeht.
Die Freiheit, etwas wissen zu dürfen – 'it can go with a bang or with a whimper', um eine bekannte Zeile von T. S. Eliot zu paraphrasieren. Was mich noch nicht ganz, aber fast schon zu Martin Thür führt.
Bürgerrecht Presse- und Informationsfreiheit Pressefreiheit und Informationsfreiheit sind zwei Seiten einer Münze. Sie sind keine Geschenke. Sie wachsen dort, wo sie als Recht, als Bürgerrecht betrachtet werden.
Wenn sie aber mit Spindoktoren, dunklen Andeutungen in Hinterzimmergesprächen, beleidigter Message-Control und Angriffen auf demokratische Institutionen mutwillig entkernt, kleingeredet oder weggeschoben werden, dann müssen sich Journalisten Daten, Fakten und Erkenntnisse auf teils langwierige, teils klandestine, manchmal gefährliche, manchmal sogar andere Menschen gefährdende Weise erkämpfen, um ihren Job zu machen: zu informieren. Und damit – auch – demokratische Kontrolle auszuüben.
Banal? Immer weniger. Aus gutem Grund ist die investigative Recherche so wichtig geworden. Sie bietet nicht nur Aha-Effekte in einer Zeit, in der schön geschriebene Geschichten weniger nachgefragt werden. Sondern sie nutzt neue Strukturen, neue Methoden, neue Ideen, um eine immer komplexere, hermetische, Social-Media-getriebene Welt, zunehmend ungleiche Welt zu durchdringen. Sie muss sie nutzen. Man kann das "Notwehr" nennen.
Österreich auf dem vorletzten Platz weltweit Österreich steht im Ranking für Access to Information auf dem vorletzten Platz, auf Platz 135. Nur in Palau gibt es noch weniger Informationsfreiheit als hier. Österreich nimmt somit natürlich auch unter den europäischen Ländern den letzten Platz ein.
Immerhin gibt es mittlerweile den Versuch, das zu ändern. Endlich ein modernes, ein umfassendes Informationsfreiheitsgesetz zu schaffen.
Würde es das geben, hätte Martin Thür vielleicht nicht so viel Arbeit und Nerven in den Versuch stecken müssen, etwas herauszufinden, von dem er völlig zu Recht findet, dass es nicht nur ein Journalistenrecht, sondern das oben erwähnte Bürgerrecht ist, das zu wissen: Welche Politiker bekamen nach ihrem Rückzug eine Gehaltsfortzahlung? Und: Welche Unternehmen bekamen genau wofür Milliarden an Corona-Hilfen?
Martin Thür ist ein echter, ein gelernter, ein ernsthafter, ein hartnäckiger, ein investigativer, fast will ich sagen, ein notorischer Journalist. Seine Zuschauer und er hätten es verdient, dass Österreich in internationalen Rankings nicht absteigt. Sondern aufsteigt.
Tendenz: nach unten Man kann Rankings albern finden. Aber es ist schon merkwürdig, dass im V-Dem-Index für Demokratie, im Demokratie-Index des Economist, bei Transparency International, bei Reporter ohne Grenzen die Tendenz immer nach unten geht?
Muss es also wirklich immer mehr Thürs geben, damit Österreich bei Indikatoren wie 'funktionierende Regierung', 'politische Kultur' oder 'Pressefreiheit' punktet? Ist das die Lösung für ein erkanntes Problem?
Thür hat sich nicht selbst beworben, er wurde quasi beworben – von Josef Barth, auch einem hartnäckigen Verfechter der Idee, dass Menschen ein Recht auf Information von denen haben, denen sie ihr Geld und ihre Gemeinschaft anvertrauen. Sinnigerweise hat er in dem Formular, das man für die Nominierung ausfüllen musste, ein paar Kategorien verändert. Da, wo er 'ORF' hätte eintragen müssen, weil Thür schließlich beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk arbeitet, hat er 'alle Mediengattungen' hineingeschrieben. Und da, wo hätte stehen müssen, wo genau der preiswürdige Beitrag erschienen ist, da steht jetzt: 'Verfassungsgerichtshof'. Und: 'Verwaltungsgerichtshof'.
Barths Begründung: Thür habe schließlich nicht nur für 'ein', für sein Medium, sondern für alle Medien etwas erkämpft. Er habe mit zwei Klagen die Presse- und Informationsfreiheit erweitert und damit ein neues Recherche-Recht für alle Journalist:innen geschaffen. Also ein neues Instrument, einen Hebel, eine Struktur: Weil jetzt Informationsrechte theoretisch weiter auslegt werden müssten, als es Parlament und Regierung bisher zugestehen.
Ein schöner, auch ein trauriger Sieg. Aber Achtung: Weitere Klagen, hoffentlich auch weitere Siege stehen an. Weil es offenbar nicht anders geht. Notwehr, centerum censeo.
"Menschenrecht auf Meinungsäußerung" In dem Verfassungsgerichtsurteil, das Martin Thür erkämpft hat, steht übrigens, er sei, wir Journalisten seien 'public watchdogs'. Ich mag das, denn in dem Begriff ist alles drin: Für die Öffentlichkeit wird etwas kritisch geprüft, und wenn etwas nicht in Ordnung ist, dann wird laut gebellt. Die Richter haben das Ganze natürlich eleganter beschrieben: Es greife das 'Menschenrecht auf Meinungsäußerung'. Und trotzdem steht Österreich immer noch auf Platz 135 beim Access to Information. Dieses Land lernt zu langsam.
Warum das alles so ungeheuer wichtig ist? Warum es wichtig ist, dass in diesem Land Journalisten wie Martin Thür arbeiten, deren Arbeit, deren permanentes Fragen als Nervensägerei, ja sogar als Gefahr für die politische Stabilität, für den Datenschutz, für den Staatsschutz, für das Geheimhaltungsinteresse Betroffener, für die Arbeitsfähigkeit von Behörden eingeschätzt wird?
Warum es so wichtig ist, dass einer wie er den ganzen Weg geht? Und dass ihm dabei, das soll hier nicht unterschlagen werden, die Rechtsabteilung des vielgescholtenen ORF zur Seite stand? Dass sich jemand nicht zufrieden gibt, nicht einschüchtern lässt, sich in langweiligen Daten und Listen und Abrechnungen und Dokumenten vergräbt? Und sich, mehr als viele von uns, die wir diesen Job schon im Normalfall oft ein wenig anstrengend finden, nicht abwimmeln lässt?
"Demokratie unter Sedimenten von Selbstbedienung, Steuerverschwendung versenken" Weil Österreich genau da, wo Thür, wo zum Glück immer mehr Kollegen hinschauen, so schlecht dasteht. Verzeihen Sie, wenn ich Gefahr laufe, mein Gastrecht zu missbrauchen. Aber ein Land, das bis heute das Amtsgeheimnis über die Freiheit des Zugangs zu Information stellt, läuft Gefahr, seine Demokratie unter den Sedimenten des Gewohnheitsrechts, der Anmaßung, der Selbstbedienung, der Steuerverschwendung zu versenken.
Wo Martin Thür klagen muss, um zu erfahren, welches Unternehmen welche Hilfen aus Steuermitteln bekommt, wo er klagen muss, um zu erfahren, welcher Politiker welche Gelder aus Steuermitteln bekommt, wo die 'Dossier'-Kollegen klagen mussten, um zu erfahren, wie viel Steuergeld die Stadt Wien in Inserate bei einem SPÖ-nahen Verlag steckt – da entsteht tiefes Misstrauen.
"Da riecht es nach Korruption" Da riecht es nach Korruption. Auch wenn, wie immer, die Unschuldsvermutung gilt. Wo es trotz aller Bekundungen, aller Versprechen, aller Koalitionsvereinbarungen immer noch kein Mediengesetz, kein Parteiengesetz, kein ORF-Gesetz, keine Whistleblower-Regelung, kein Transparenzgesetz gibt, da riecht es nach Missbrauch.
Wenn man im Verfassungsministerium nachfragt, Sie wissen das alle, dann heißt es, das Gesetz sei ausverhandelt, und ein, wörtlich, Paradigmenwechsel stehe vor der Tür. Aber die Länder blockierten.
Wenn man bei Verfassungsjuristen nachfragt, sagen die, das sei ein vorgeschobenes Argument, der Bund könne mit gutem Beispiel vorangehen.
Wenn man bei den Ländern nachfragt, bei der in dieser Causa nicht sehr beweglichen SPÖ Wien zum Beispiel, dann heißt es, man begrüße den Vorstoß 'vollumfänglich'. Aber dann folgen, ich habe es gezählt, zwölf Aber – und die Botschaft, so gehe das nicht. Und wenn man dann im Büro des zuständigen Stadtrats nachfragt, heißt es, man bastele an einem eigenen Gesetz, falls der Bund das seine 'schuldig bleibt'.
Ein seltsam destruktiver Wettbewerb ist das.
Relikte aus der Metternich-Zeit Gut möglich also, dass es wieder mal nichts wird bis zum Ende der Legislaturperiode. Dabei wollten doch ÖVP und SPÖ unbedingt – und jetzt aber sofort – schon 2013 den Verfassungsrang für das überkommene Amtsgeheimnis aushebeln und Transparenz für alle mit Steuermitteln, also im Wortsinne mit Bürgergeld finanzierten Bereiche schaffen.
Warum also tauchen täglich neue Berichte auf über den allzu engen Konnex zwischen Inseraten, Parteien und Amtsinhabern? Warum muss der Kanzler in Interviews negieren, dass Österreich ein Korruptionsproblem hat – wenn es doch so einfach wäre, den Blick in die Taschen von Staat und Parteien zuzulassen, um Verdachtsmomente auszuräumen?
Mir wird seit Jahren auf diese Frage geantwortet, das seien immer noch die Relikte der Metternich-Zeit vor 200 Jahren und des überkommenen Misstrauens der Regierenden gegenüber den Regierten.
Oder, wie Matthias Huter vom Forum Informationsfreiheit sagt, es sei das 'buckelige, untertänige Staatsverständnis', das proaktive Politik verhindere.
Florian Skrabal von 'Dossier' nennt es 'Politik nach Gutsherrenart'.
Praktische Intransparenz Es gibt die böse These, dass Intransparenz eben sehr praktisch ist, wenn man etwas zu verstecken hat.
Und dann gibt es natürlich noch die Idee, dass in einem Land, das kaum Machtwechsel kennt, das Verständnis dafür verlorengegangen ist, was man seinen Wählern schuldet: Offenheit, Teilhabe.
Also muss man sich Teilhabe und Offenheit weiter erkämpfen. Weil es nicht anders geht. Notwehr, wie gesagt.
Weshalb ich jetzt noch einmal und endlich so richtig den wunderbaren Kollegen würdigen will, der Schwächen offenlegt und Maßstäbe setzt, wo sie gesetzt werden müssen. Der Preisträger ist, das muss ich neidlos anerkennen, der geborene Journalist. Hat schon bei ATV und dann bei 'Addendum' gegraben und geforscht. Ist zum ORF gewechselt, wo er sich in Rechercheaufträge vergrub und über keine oder dünne oder unleserlich lange Antworten von unwilligen Bürokraten ärgerte. Und er ärgerte er sich auch, wenn sich Politiker als Fans der Transparenz darstellten, nur um dann im eigenen Interesse zu mauern. Und ärgerte sich noch mehr, wenn Verfahren gewonnen wurden – und die zur Herausgabe von Informationen verurteilte Seite einfach nicht mitspielte. Weil das nämlich in diesem Land ja erstaunlicherweise auch möglich ist, dass man vor Gericht gewinnen, aber seine Ansprüche auf Information bei Behörden trotzdem nicht durchsetzen kann.
Man kann mit Martin Thür ganz wunderbar darüber reden, ob gelernte Korrumpierbarkeit durch erzwungene Öffentlichkeit quasi wegerzogen werden könnte. Und ob überforderte Systeme sich reflexhaft abschotten.
Aber weil er tatsächlich ein bescheidener Mann ist, betont er, dass er nichts Besonderes sei, kein Philosoph. Ein Datenfreak eben, ein Nerd. Keine akademische Größe, aber immerhin gut in Mathe. Und ein Fan des d'hondt'schen Verfahrens. Irgendwelche Hobbys muss der Mensch ja haben.
Vor allem aber ist er ein Kämpfer. Für seinen Beruf, für unsere Berufsehre, für die Pressefreiheit. Und damit für die Demokratie in Österreich.
Herzlichen Glückwunsch zu diesem hart erarbeiteten und sehr verdienten Preis."